So bitterkalt
welche wütend werden, wenn sie hinfallen, und welche anfangen zu weinen, wenn jemand sie zufällig anstöÃt. Welche fragen und welche zuhören.
Die Kinder haben so viel Energie. Wenn sie nicht genötigt werden, im Stuhlkreis still zu sitzen, sind sie immer in Bewegung, immer auf dem Weg irgendwohin. Sie krabbeln, sie rennen, sie hüpfen. DrauÃen auf dem Hof graben sie in der Sandkiste, klettern und schaukeln und wollen immer bei allem dabei sein.
»Ich auch! Ich auch!«
Die Kinder kämpfen um Raum und um Aufmerksamkeit. Doch Jan kann nicht erkennen, dass jemand aus dem Spiel ausgeschlossen würde, niemand wird aus der Gruppe geschubst oder zieht sich zurück, so wie es bei ihm selbst so oft der Fall war.
Die Kindergruppe der »Lichtung« scheint harmonisch zu sein, und es ist leicht, die Nähe zu Sankt Psycho zu Âvergessen â bis die Eieruhr in der Küche schrillt und jemand zum Fahrstuhl unter der Klinik gebracht oder von dort abgeholt werden muss. Doch auch die Wege in den Keller werden zur Routine, wenn auch Jan etwas mehr auf Leo achtet, der einen paranoiden Vater zu haben scheint.
Am Mittwochvormittag unternehmen alle Kinder einen kleinen Ausflug in den Wald, der sich hinter dem Krankenhausgelände erhebt. Da ziehen sie gelbe Reflektorwesten über die Jacken und marschieren in einer langen Reihe durch das Tor. In vielen Vorschulen müssen die Kinder sich, wenn sie einen Ausflug machen, an den Schlaufen eines langen Seils festhalten, doch hier verfährt man nach der alten Methode: Es gehen immer zwei nebeneinander und halten sich an den Händen.
Ausflüge in den Wald machen Jan immer ein wenig nervös, doch jetzt wandert er ganz entspannt mit den Kollegen Marie-Louise und Andreas durch verwelktes Farnkraut hinter der Vorschule. Hier auf dem kleinen Pfad sind sie Sankt Patricia am nächsten, der Zaun liegt nur etwa zehn Meter entfernt.
Marie-Louise beugt sich zu ihm: »Wir müssen aufpassen, dass die Kinder nicht zu nah an die Einfriedung kommen.«
»Ach ja? Warum denn?«
Seine Chefin sieht bedrückt aus.
»Da können sie einen Ausbruchsalarm auslösen. Sankt Patricia hat am Zaun eine Menge Elektronik vergraben.«
»Elektronik?«
»Ja, irgendwelche Bewegungsmelder.«
Jan nickt und sieht zum Zaun hin. Zur »Einfriedung«. Er kann keine Sensoren erkennen, sondern nur Tannen, die auf der Innenseite des Zaunes, vielleicht als Sichtschutz, dicht nebeneinandergepflanzt wurden. Hinter den Bäumen kann er Kieswege und ein paar niedrige Häuser auf dem Gelände erkennen â gelbe Pavillons, die neu wirken. Dort rührt sich nichts.
Plötzlich erinnert er sich an die schwarz gekleidete Frau, die er am Montag beim Zaun gesehen hat. Ihr dunkler Blick hat ihn an Alice Rami erinnert, aber Rami ist ja in seinem Alter, und die Frau in Schwarz war sicher doppelt so alt.
Die Vorschulkinder scheinen nicht im Geringsten neugierig auf den Zaun, sie rascheln Hand in Hand in ihren dicken Herbstkleidern vorwärts und kümmern sich ausschlieÃlich um das, was direkt vor ihnen auf dem Weg zu sehen ist: Ameisen, Baumwurzeln, kleine Dinge und heruntergefallenes Laub.
Sie nähern sich einem dumpfen Brausen. Es kommt von einem breiten Bach mit rauschendem schwarzem Wasser, der wie ein Wallgraben an der Rückseite des Krankenhauses verläuft, nach Süden abbiegt und dann entlang der Längsseite des Zaunes verschwindet. Jan fragt sich, ob das Geräusch des Wassers wohl die Patienten im Krankenhaus beruhigt.
Vor ihnen liegt eine kleine Holzbrücke mit Geländer, über die jetzt die Vorschulkinderschlange wandert. Dann marschieren sie bergauf und in den Wald hinein.
»Oh, da!«
Es ist die kleine Fanny, drei Jahre alt und das letzte der Kinder. Sie hat die Hand ihres Kameraden losgelassen und ist stehen geblieben. Sie betrachtet etwas, das in der Erde neben dem Weg wächst. Jan geht zu ihr hin und sieht es sich an.
Zwischen dem Laub unter den hohen Bäumen hat sich etwas, das kleinen rosa Fingern gleicht, aus der Erde geschoben.
»Ja, sieh mal einer an«, sagte Jan. »Ich glaube, das ist eine Art Pilz. Ein Fingerpilz.«
»Finger?«, fragt Fanny.
»Nein, es sind keine richtigen Finger.«
Vorsichtig streckt Fanny ihre kleine Hand nach den dünnen rosa Pilzen aus, doch Jan hält sie zurück.
»Lass sie ihn Ruhe, Fanny. Die möchten gern in Ruhe wachsen,
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