So bitterkalt
erste Arbeitswoche in der »Lichtung« ist vorüber. Er sollte auch feiern â dass er es geschafft hat. Doch er hat nicht das Gefühl, als gäbe es viel zu feiern. Die Woche ist schnell und leicht vorübergegangen, fast die ganze Zeit über. Er hat sich gut verhalten, hat seine Pflichten übernommen, und sowohl die Kinder als auch die Kollegen scheinen ihn zu mögen.
Jan hat mittlerweile seine eigene Stereoanlage aufgebaut, also legt er Ramis Platte auf und dreht die Lautstärke hoch genug, um die Partygeräusche zu übertönen. Im Moment läuft gerade ein altes Lieblingslied von ihm, die Ballade »Deine heimlichste Liebe«, in der Rami mit flüsternder Stimme singt:
Schüttele deine Erinnerung durch,
bis du sie im Wind
herumwirbeln siehst,
bis du sie hörst
Liebe oder spiele nur
â immer sollst du sie vermissen,
deine heimlichste Liebe,
wie eine verirrte Seele in der Wüste
Das Lied scheint jedenfalls von der Unmöglichkeit der Liebe zu handeln. Wenn sie sich jemals wiedersehen sollten, wird er Rami fragen, ob das so ist.
Wenn sie sich jemals wiedersehen â dazu müsste er sich in Sankt Psycho einschleichen, vielleicht durch den Keller. Wer wagt, der findet immer einen Weg ins Haus.
Er dreht dem engen Zimmer den Rücken zu und sieht aus dem Fenster.
Der Parkplatz auf der Rückseite des Mietshauses ist menschenleer, aber voller Autos. Er zählt elf Volvo, inklusive seines eigenen, sieben Saab, zwei Toyota und einen einzigen Mercedes. Die Leute sind von der Arbeit nach Hause gekommen und zu ihren Familien gegangen. Vielleicht sitzen sie jetzt gemeinsam in der Küche oder vor dem Fernseher. Vielleicht stricken sie, oder sie sind mit ihrer Briefmarkensammlung beschäftigt.
Doch Jan ist allein.
Schon ist es passiert â er hat das gefährliche Wort gedacht, er hat seine Unterlegenheit eingestanden. Er ist allein , und er fühlt sich allein .
Er hat keine Freunde hier in Valla. Das ist eine nüchterne Tatsache. Er hat nichts vor.
Im Grunde will er einfach dasitzen und Rami zuhören. Aber er hat immer noch Umzugskartons auszupacken, und als er das nun tut, findet er ein altes Buch mit Zeichnungen und Zeitungsausschnitten. Es ist sein Tagebuch aus Jugendzeiten, in das er ab und zu geschrieben hat. Manchmal liegen mehrere Monate zwischen den Einträgen.
Er klappt das Tagebuch auf, nimmt einen Stift und schreibt sich alles von der Seele, was in den letzten Wochen geschehen ist: der Umzug nach Valla, die Einsamkeit, der neue Job und der Traum, dass ihn all das zu Rami führen wird.
Auf die Vorderseite des Buches hat er ein altes Foto geklebt, ein Polaroidbild. Es ist ein wenig ausgeblichen, dennoch erkennt man einen blonden Jungen, der erstaunt aus einem Krankenhausbett mit weiÃem Bettzeug in die Kamera blickt. Der Junge ist er selbst als Vierzehnjähriger.
11
Am Samstag nach dem Mittagessen geht Jan als Erstes in die Waschküche des Mietshauses und trifft dort einen alten Mann. Es ist ein Nachbar, dessen Haare ebenso weià sind wie sein Bart und der aus dem Raum mit den Waschmaschinen kommt.
Hinterher wird Jan klar, dass er ihn hätte ansprechen sollen und nicht nur nicken, als der Mann an ihm vorbeiging.
Der Alte hat einen abgewetzten Stoffbeutel über der Schulter, und als Jan einen Blick darauf wirft, sieht er, dass Buchstaben aufgedruckt sind. ANKT ICIA ÃSCHEREI, steht dort. Weitere Buchstaben sind in den Falten des Stoffs verborgen, und Jan betritt den Raum mit den Waschmaschinen. Doch plötzlich formt sein Gehirn drei vollständige Wörter:
Sankt Patricia Wäscherei .
Kann das auf dem Beutel gestanden haben? Es ist zu spät, um nachzusehen, der alte Mann hat den Keller bereits verlassen, die Tür ist zu und Jan mit seiner eigenen Wäsche allein.
Als alle Kleidungsstücke sauber und trocken sind, geht er in die Wohnung hinauf und versucht, dort mehr Platz zu schaffen, die Kartons beiseitezuschieben, zu putzen und die Möbel der Vermieterin zusammenzustellen. Dann isst er wie immer ein einsames Abendessen am Küchentisch, während sich drauÃen die Abenddämmerung herabsenkt.
Und was dann? Er geht ins Wohnzimmer und schaltet den alten Fernsehapparat ein. Er sieht Delfine unter der Wasseroberfläche schwimmen, scheinbar handelt es sich um einen Dokumentarfilm über die Tiere. Jan setzt sich und erfährt, dass Delfine ganz und gar nicht so nett und friedlich
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