So bitterkalt
bringst du es durch die Schleuse ins Krankenhaus, und zwar so nahe an Mitternacht wie möglich.« Er holt ein Papier aus seiner Tasche. »Aber nur in bestimmten Nächten. Hier ist der Dienstplan, in dem steht, wann einer von uns arbeitet.«
»Einer von euch. Du und wer noch?«
Rettig senkt die Stimme: »Carl, unser Schlagzeuger. Er ist auch bei der Security.« Etwas lauter fährt er fort: »Okay, gegen elf Uhr abends kannst du den Fahrstuhl nach oben zum Besuchszimmer nehmen. Achte, ehe du die Tür aufmachst, darauf, dass der Raum leer ist â aber das wird er sein. Geh ins Zimmer, und steck das Kuvert unter die Sitzkissen des Sofas. Dann fährst du wieder zu den Kindern runter. Die schlafen zu der Zeit doch, oder?«
Jan nickt und denkt an die beiden elektronischen SchutzÂengel, die er gekauft hat.
»Noch irgendwelche Fragen?«
»Nicht, was die Ãbergabe angeht. Aber ich wüsste, wie gesagt, gern noch etwas über die Patienten.«
Rettig lächelt müde und legt seine Gitarre in den Koffer. »Pfleger dürfen über die zu Pflegenden nicht reden, das weiÃt du doch.«
»Was machen sie da oben?«
»Nicht viel. Sie warten, genau wie wir anderen auch. Alle warten immer nur.«
Jan schweigt ein paar Sekunden, dann fragt er schlieÃlich: »Ich möchte wissen ... Gibt es da oben jemanden, der Alice Rami heiÃt?«
Rettig schüttelt den Kopf, er scheint nicht einmal richtig nachzudenken. »Nee«, sagt er. »Anna und Alide gibt es bei den Frauen, aber keine Alice.«
»Jemanden, der Blanker heiÃt?«
Rettig denkt ein wenig nach und nickt dann. »Es gibt eine Blanker ... Maria Blanker.«
Jan beugt sich vor. »Wie alt ist sie?«
»Nicht sonderlich alt.«
»DreiÃig?«, fragt Jan.
»Vielleicht, so zwischen dreiÃig und fünfunddreiÃig. Aber sie ist scheu. Sitzt in einer der Frauenabteilungen und verlässt sie nie.«
Frauenabteilungen , denkt Jan. Dann gibt es also mehrere.
»Hat sie Kinder in der Vorschule?«
Rettig antwortet eine ganze Weile nicht. SchlieÃlich sagt er: »Vielleicht. Ich glaube, sie kriegt manchmal Besuch.«
»Von einem Kind?«
Rettig nickt. »Einem Mädchen.«
»WeiÃt du, wie sie heiÃt?«
Rettig schüttelt den Kopf und sieht auf die Uhr.
»Ich muss gleich nach Hause«, erklärt er und stellt seine Tasche auf den Tisch. »Lass uns also das mit den Briefen klären. Wann ist deine nächste Nachtschicht?«
»Morgen.«
»Perfekt.«
Rettig steckt die Hand in die Tasche und zieht ein weiÃes Kuvert heraus, das groà und mehrere Zentimeter dick ist. Auf ihm prangen zwei Tuschebuchstaben: S. P.
»Kannst du dann das hier übergeben?«
Jan nimmt das Kuvert entgegen und sieht, dass es sorgfältig verklebt ist. Er versucht nicht, es aufzumachen, wiegt es aber in der Hand. Es ist weich. Ein Bündel Briefe, nichts sonst? Scheint so zu sein. Jan kann weder harte Gegenstände noch kleine Pulvertütchen fühlen.
»Klar.«
Er nickt Rettig zu und versucht sich selbst davon zu überzeugen, dass diese Sache eine gute Idee ist.
21
Am Abend nachdem Jan mit den Bohemos gespielt hat, arbeitet Hanna Aronsson in der Vorschule, und als Jan die Garderobe betritt, kommt sie gerade aus dem Schlafraum der Kinder. Sie sieht erschöpft aus und hält sofort den Zeigefinger vor die Lippen, als sie ihn erblickt.
»Schsch ...«
Er begreift, dass die Kinder eben erst eingeschlafen sind. Also nickt er ihr nur zu und geht in den Personalraum, um schnell seinen Rucksack in den Spind zu tun. Den Rucksack mit dem Umschlag, seinem heimlichen Auftrag als Briefträger.
Dann geht er in die Küche zu Hanna, die über die Geschirrspülmaschine gebeugt steht, und fragt:
»Schlafen sie gut?«
»Das hoffe ich.« Sie seufzt. »Heute Abend waren sie wirklich anstrengend. Schlecht gelaunt und streitlustig.«
»Echt? Wie viele sind es heute?«
»Drei ... Leo, Matilda und Mira, wie gewöhnlich.«
Wie immer, wenn Jan mit Hanna allein in der Vorschule ist, breitet sich Schweigen aus. Mit den anderen in der »Lichtung« kommt er leicht ins Gespräch, doch Hanna sagt kein Wort zu viel. Aber er hat allerdings etwas, über das er dringend mit ihr reden muss, also holt er schlieÃlich tief Luft und beginnt: »Du, Hanna, was ich dir da neulich erzählt habe, als wir
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