So bitterkalt
ein kleines Tier. Vielleicht ein Eichhörnchen. Er blättert weiter, und da fängt das Eichhörnchen an zu springen. Eine Illusion, ein Daumenkino â Seite um Seite schieÃt das Eichhörnchen durch das ganze Buch.
Wieder und wieder blättert er die Bücher durch, und am Ende hat er sie in der richtigen Reihenfolge. Die Tintenflecken auf den zusammengenommen knapp hundert Seiten der drei Bücher bilden einen gezeichneten Kurzfilm: Jan sieht, wie das schwarze Eichhörnchen auf der ersten Seite der Tiermacherin in der unteren Ecke auftaucht, wie es dann schräg über die Seiten von der Prinzessin mit den hundert Händen und Viveca im Steinhaus hinaufhüpft, um schlieÃlich ganz oben auf der letzten Seite der Hexenkrankheit im Nichts zu verschwinden.
Jan starrt auf die Flucht des Eichhörnchens.
Ein Zeichen. Es ist, als wäre es eine Botschaft an ihn.
20
Der Probenraum, in dem sich die Bohemos treffen, riecht nach Schweià und groÃen Träumen und liegt ein paar Blocks von Bills Bar entfernt am Hafen. Der Raum ist kahl wie ein heruntergekommenes Jugendzentrum, abgesehen von den Hunderten leerer Eierkartons, die an den Wänden kleben, um den Schall zu dämpfen.
An diesem Abend sitzt Jan hinter dem Schlagzeug und steuert den Beat und wird gleichzeitig davon mitgerissen. Die Bohemos hatten mit dem Klassiker »Sweet Home Alabama« begonnen, ein steter Vierertakt, bei dem Jan ohne Probleme mithalten konnte. Damit hatten sie sich aufgewärmt, und jetzt spielen sie seit fast einer Stunde alte Rocksongs.
Jan hat SpaÃ. Nach all den Jahren, in denen er allein Songs aus seiner alten Stereoanlage begleitet hat, fühlt es sich seltsam an, mit lebendigen Musikern zu spielen. Erst war er etwas zittrig, doch jetzt geht es ihm ausgezeichnet.
Und Rettig ermuntert ihn immer wieder. Neben ihm spielen zwei weitere Mitglieder von den Bohemos mit. Der Bassist heiÃt Anders und der an der Leadgitarre Rasmus. Beide sind in Rettigs Alter und nicht gerade gesprächig. Jan hat keine Ahnung, wie sie es finden, dass er den Platz des Schlagzeugers Carl eingenommen hat. Den ganzen Abend über haben sie keinen Ton zu ihm gesagt, sondern nur kurze Blicke zum Schlagzeug hin geworfen.
Jan fragt sich, ob Carl, Anders und Rasmus auch Wachleute im Krankenhaus sind.
Um Viertel nach acht hören sie auf und packen ein. Die beiden anderen Bandmitglieder verziehen sich schnell, jeder mit seinem Instrument in einem Kasten, nur Rettig ist noch da. Jan weiÃ, dass er auf eine Antwort wartet.
»Du spielst gut«, meint Rettig. »Ein wenig afrikanisch.«
»Danke«, erwidert Jan und steht vom Schlagzeug auf. »Hat Spaà gemacht.«
»Du hast aber schon mal in einer Band gespielt, oder?«
»Klar«, lügt Jan.
Es wird still zwischen all den Eierkartons. Rettig geht zum Eingang und holt seinen schwarzen Gitarrenkasten.
Er sieht Jan an. »Hast du dich entschieden? Ich meine in Bezug auf das, worüber wir gestern geredet haben.«
Jan nickt. »Heute ist der 4. Oktober, internationaler Tag des Kindes«, sagt er. »Wusstest du das, Lars?«
Rettig schüttelt den Kopf und fängt an, die MikrofonÂständer abzubauen. »Ist heute nicht Tag der Zimtschnecke?«
»Das auch«, sagt Jan.
Sie räumen schweigend weiter auf.
SchlieÃlich fragt Jan: »Hast du Kinder, Lars?«
»Wieso?«
»Mit Kindern umzugehen macht klug.«
»Ach. Nun habe ich aber leider keine Kinder«, antwortet Rettig. »Ich habe eine Freundin, aber keine Kinder. Hast du welche?«
»Nein. Keine eigenen.«
»Also: Hast du dich entschieden?«
»Eine letzte Frage habe ich noch«, sagt Jan. »Was verdient ihr an der Sache?«
Rettig schweigt einen Moment, dann antwortet er: »So direkt nichts.«
Jan sieht ihn an. »Und indirekt?«
Rettig zuckt mit den Schultern. »Nicht viel«, erwidert er. »Wir nehmen eine kleine Gebühr, eine Art Porto. Vierzig Kronen pro Brief. Aber davon werden wir nicht reich.«
»Und es sind nur Briefe?«
Natürlich hat Jan diese Frage schon mehrmals gestellt, aber Rettig ist geduldig.
»Genau, Jan, nur gewöhnliche Briefe.«
Jan nickt. »Okay, ich mache es. Ich kann es ja mal probieren.«
»Gut«, sagt Rettig und beugt sich blitzschnell zu ihm vor. »Wir machen das so, Kumpel: Du kriegst ein Päckchen von mir, und wenn du das nächste Mal Nachtschicht hast,
Weitere Kostenlose Bücher