So bitterkalt
letzten roten Pfeil hatte er unter ein paar dicken Steinen auf dem Boden, vielleicht zwanzig Meter hinter der Klamm, platziert. Er zeigte den Hügel hinauf auf die offene Stahltür im Betonbunker.
Der kleine William war nirgends zu sehen.
Als Jan den Hügel hinaufstieg, hämmerte ihm das Blut wie eine Basstrommel in den Ohren. Die letzten zwei Meter vor der Stahltür bewegte er sich wie eine Katze, versuchte zu schleichen und keine Geräusche zu verursachen.
Er war am Eingang zum Bunker angelangt, senkte den Kopf und lauschte. Ja, da war jemand drinnen. Ein Kind schniefte zwischen den Betonwänden. Aber es war kein Weinen, das hoffte Jan zumindest, sondern ein kleiner Junge hatte im kalten Wald eine laufende Nase bekommen.
Leise streckte er die Hand aus und schob die Stahltür langsam, ganz langsam zu. Und als sie ganz geschlossen war, legte er die beiden Riegel vor.
Am Abend zuvor hatte er unter einem Stein beim Bunker die Fernbedienung in einer Plastiktüte versteckt. Die holte er jetzt heraus und setzte den Roboter in Gang. Natürlich konnte er ihn nicht sehen, aber er hörte durch die Belüftungsschlitze doch seine eigene verstellte Stimme metallisch im Bunker widerhallen.
»Warte hier, William« , verkündete der Lautsprecher. » Es ist alles gut, warte hier.«
Jan versteckte die Fernbedienung wieder und machte kehrt. Er kletterte auf die ebene Fläche zurück, eilte zur Klamm und nahm dabei gleich den roten Pfeil mit, den er zusammenknüllte und in die Jackentasche schob. Pfeil Nummer zwei ebenso. Dann zog er mit einer ruckartigen Bewegung das Eisentor zu, stieg wieder aus der Schlucht und griff sich den letzten Stoffpfeil.
Jetzt war er auÃer Atem, ging aber nicht langsamer. Jetzt die Böschung hoch. Die Trommeln dröhnten.
Als er wieder auf der Lichtung angekommen war, wo das Versteckspiel begonnen hatte, sah er auf seine Uhr. Fünf Minuten nach halb vier. Auch wenn er das Gefühl hatte, es wäre viel mehr Zeit verstrichen, hatten er und die Jungen doch erst zehn Minuten Verstecken gespielt.
Plötzlich erkannte er eine hellgrüne Jacke zwischen den Bäumen, einen kleinen Jungen, der sich ins Unterholz duckte und versuchte, sich zu verstecken. Ein Stück weiter entdeckte er noch einen Junge und dann noch einen.
Nun hatte er die Jungen unter Kontrolle, er wusste genau, wo sie waren. Auch William war an seinem Platz. Der Plan ging auf, Jan musste sich jetzt entspannen.
Er lächelte und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Hallo, alle miteinander! Ich sehe euch!«
22
Ehe er am Freitag zur Nachtschicht geht, nimmt sich Jan eine leere Kaffeetasse und verlässt die Wohnung. An diesem Abend wird er nicht ausgehen, sondern nur zwei Treppen tiefer seinen Nachbarn mit dem Namensschild V. LEGÃN aufsuchen.
Durch Legéns Wohnungstür ist kein Geräusch zu hören, und Jan hat schon zweimal dort geklingelt, ohne dass jemand geöffnet hätte. Jetzt klingelt er wieder.
Diesmal hört er Schritte, und es rasselt an der Tür. Legén hat offenbar hinter sich abgeschlossen, doch jetzt geht die Tür einen Spalt auf.
»Guten Tag«, sagt Jan und hält seine Tasse hoch.
Der Nachbar antwortet nichts.
»Ich heiÃe Jan Hauger, ich wohne einen Stock höher«, erklärt Jan. »Und ich wollte fragen, ob Sie vielleicht etwas Zucker für mich haben. Für einen Kuchen.«
Legén starrt ihn an wie ein erschöpfter Boxer, der seinem Erzfeind begegnet. Heute hat er offensichtlich keine gute Laune. Aber er nimmt die Tasse entgegen und macht in der Diele kehrt. Jan kann leise vortreten und den Kopf in die Wohnung stecken.
Drinnen ist es dunkel und muffig und riecht nach Tabak. Der Stoffbeutel, den er neulich unten im Keller gesehen hat, liegt neben dem Schuhregal auf der Erde. Jetzt kann man die Aufschrift deutlich lesen: WÃSCHEREI SANKT PATRICIA.
Er hat recht gehabt.
Jan lächelt zufrieden, als Legén zurückkommt, die Tasse halb mit weiÃem Zucker gefüllt.
»Super. Vielen Dank.«
Er ist drauf und dran, auf den Beutel zu zeigen und zu erzählen, dass er selbst auch im Sankt Patricia arbeitet, aber Legén nickt ihm nur zu und schlieÃt schnell die Tür. Es klickt, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wird.
Jan geht in seine Küche hinauf und schüttet den Zucker in den Mülleimer.
Gegen neun Uhr abends radelt Jan zur Vorschule, und den ganzen
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