So bitterkalt
Weg über denkt er an das Kuvert, das er am Abend zuvor im Besuchszimmer gelassen hat. Das dürfte mittlerweile von Rettig abgeholt worden sein und die Patienten in irgendeiner Weise beeinflusst haben, wenn er auch nicht weiÃ, in welcher.
Doch als er bei der Vorschule ankommt, hat sich absolut nichts verändert. Die Betonmauer umschlieÃt das Krankenhaus, die Scheinwerfer leuchten, und alles ist wie sonst auch. An diesem Abend wartet Lilian auf ihn, und sie hat die Kinder bereits ins Bett gebracht.
»Hallo, Lilian.«
»Hallo, Jan!«
Lilian sieht müde aus, aber ihre Stimme ist laut und hektisch. Manchmal hat er das Gefühl, dass die Kinder ein bisschen Angst vor ihr haben, obwohl sie gern mit ihnen spielt. Sie wirkt angespannt und zugleich zerbrechlich, findet Jan.
»Bereit fürs Wochenende?«, fragt er.
»Ja!«
»Und wirst du auf die Piste gehen und dich amüsieren?«
»Ganz bestimmt.«
Doch ihre Stimme klingt nicht erwartungsfroh. Schnell nimmt Lilian ihre Jacke, aber sie fragt nicht, was Jan tun wird, und wünscht ihm auch kein schönes Wochenende. Sie wirft ihm einen raschen Blick zu und verlässt die Vorschule.
Jan ist allein und bereitet sich auf die Nacht vor.
Er schaut nach den schlafenden Kindern in ihrem Zimmer, er führt die üblichen Abendroutinen durch, zieht sich aus und liegt schon um elf Uhr im Bett, doch wie immer kann er nicht einschlafen. In der Vorschule ist es zu warm und zu stickig, das Bettsofa ist schmal und unbequem, und drüben in der Küche liegt eine Magnetkarte, die ihn magisch anzieht. Jan seufzt leise im Dunkel.
Die Tür, die aus dem Besuchszimmer hinausführt, ist verschlossen. Wenn Rettig allerdings hineinkann, um das Kuvert abzuholen, das Jan unter dem Kissen versteckt hat, dann muss er einen Schlüssel haben.
Ob die Patienten ihre Briefe schon bekommen haben?
Jan dreht sich in seinem Bett auf die Seite und spielt weiter mit dem Gedanken, einen geheimen Weg ins Krankenhaus hinein zu finden.
Vielleicht über den Schutzraum im Keller? Der hat eine zweite Tür, und Jan weià nicht, wohin sie führt und ob man sie überhaupt öffnen kann. Wenn er nicht hinuntergeht und diese Tür ausprobiert, wird er es nie erfahren.
Es ist Viertel vor zwölf. Die Kinder schlafen, und die Magnetkarte zum Keller wartet immer noch auf ihn.
Da drauÃen liegt Sankt Psycho wie ein hoher Berg, der zur Besteigung lockt, nur weil er da ist. Wie der Mount Everest. Doch es sind schon viele Bergsteiger am Mount Everest ums Leben gekommen.
Nein, er stellt sich das Krankenhaus lieber wie eine zu erforschende Grotte vor. Jan hat noch nie von jemandem gehört, der in einer Grotte ums Leben gekommen ist, auch wenn das natürlich passieren kann.
Er schlägt die Bettdecke zurück und setzt sich auf.
Nur einen schnellen Blick in den Schutzraum, dann kann er schlafen.
Zehn Minuten später ist er unten im Kellergang, den Schutzengel trägt er am Gürtel. Er hat das Licht eingeschaltet und ist die Treppe hinuntergegangen. Das Fahrstuhlfenster ist erhellt, aber er geht weiter den Gang entlang bis zur Stahltür. Sie ist geschlossen, und natürlich warnt da dieses Schild, doch Jan drückt die Klinke und öffnet die Tür. Er weià noch, wo der Lichtschalter sitzt, und nun flammt die Neonröhre auf.
Der Schutzraum sieht genauso aus wie beim letzten Mal, als er hineingeschaut hat. Der blaue Teppich, eine Matratze, ein paar Kissen. Hier ist niemand gewesen. Oder doch? Die Matratze liegt auf dem FuÃboden. Hat sie das letzte Mal nicht an der Wand gelehnt? Und neben der Matratze steht eine leere Weinflasche. Stand die beim letzten Mal schon da? Er kann sich nicht erinnern.
Immerhin ist es vollkommen still. Vorsichtig betritt Jan den Raum. Er lässt die Stahltür offen stehen und geht zum anderen Ende des Raumes. Da ist der Ausgang, der vielleicht ins Krankenhaus führt â noch eine verschlossene Stahltür mit einer langen Hebelklinke.
Jan packt den Hebel und versucht, ihn herunterzudrücken. Der gibt einen Zentimeter nach, aber mehr nicht. Jan stellt sich auf die Zehenspitzen, spannt die Arme an und legt alle Kraft hinein, den Eisenhebel zu bewegen, doch es ist nicht möglich.
Das Krankenhaus lässt ihn nicht ein.
Er atmet aus, sieht zur Seite â und dann horcht er.
Ein Geräusch. Eine Vibration.
Im Keller ist plötzlich ein leises Kreischen zu hören. Es kommt
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