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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sie nun wollte oder nicht.
    Lacke ging Schritt für Schritt die Treppen hinab. Er war so müde. Als er den letzten Treppenabsatz vor dem Hauseingang erreichte, setzte er sich auf die oberste Treppenstufe, legte den Kopf in die Hände.
    Ich trage die … Verantwortung.
    Das Licht erlosch. Seine Halssehnen spannten sich, er schnappte heftig nach Luft. Es war nur das Relais. Eine Zeitschaltung. Er saß in der Dunkelheit des Treppenhauses, holte vorsichtig den Stein aus der Manteltasche, hielt ihn in beiden Händen, starrte in die Dunkelheit hinein. Komm doch, dachte er. Komm doch.
    *
    Virginia schloss Lackes flehendes Gesicht aus, schloss die Tür ab und legte die Sicherheitskette vor. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, wollte nicht, dass irgendwer sie sah. Es hatte sie große Mühe gekostet, die Worte auszusprechen, die sie gesagt hatte, eine Art grundsätzliche Normalität vorzugaukeln.
    Seit sie aus dem Supermarkt heimgekommen war, hatte sich ihr Zustand rapide verschlechtert. Lotten hatte ihr nach Hause geholfen, und in ihrem benebelten Zustand hatte Virginia den Schmerz durch das Tageslicht auf ihrem Gesicht einfach akzeptiert. Zuhause angekommen, hatte sie in den Spiegel geschaut und hunderte kleiner Pusteln auf ihrer Gesichtshaut und dem Handrücken erblickt. Verbrennungen.
    Sie hatte ein paar Stunden geschlafen, war aufgewacht, als es dunkel wurde. Ihr Hunger hatte in der Zwischenzeit einen anderen Charakter bekommen, sich in Unruhe verwandelt. Ein Schwarm hysterisch zappelnder Stichlinge tummelte sich in ihrem Blutkreislauf. Sie konnte weder liegen, sitzen noch stehen. Sie drehte Runde um Runde in ihrer Wohnung, kratzte sich am ganzen Körper, duschte kalt, um dieses kribbelnde, zappelnde Gefühl einzudämmen. Aber nichts von all dem half.
    Es ließ sich nicht beschreiben. Das Gefühl erinnerte sie daran, wie es war, als sie zweiundzwanzig Jahre alt die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Vater vom Dach des Sommerhauses gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte. Damals war sie auch immer weiter auf und ab gegangen, als gäbe es keinen Ort auf Erden, an dem ihr Körper sein konnte, an dem es nicht wehtat.
    Jetzt war es genauso, nur schlimmer. Die Unruhe, die Angst, gaben nicht einen Augenblick Ruhe. Sie scheuchten Virginia durch die Wohnung, bis sie nicht mehr konnte, bis sie sich auf einen Stuhl setzte und den Kopf gegen den Küchentisch hämmerte. In ihrer Verzweiflung nahm sie zwei Rohypnol und spülte sie mit einem Schluck Weißwein herab, der nach Schmutzwasser schmeckte.
    Normalerweise reichte ihr eine, um einschlafen zu können, als hätte man ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt. Jetzt bestand die einzige Wirkung der Tabletten darin, dass ihr furchtbar übel wurde und sie fünf Minuten später grünen Schleim und die beiden halbverdauten Tabletten erbrach.
    Sie lief weiter auf und ab, zerriss eine Zeitung in winzig kleine Stücke, kroch über den Fußboden und wimmerte vor Angst. Sie robbte in die Küche, riss die Weinflasche vom Küchentisch herab, sodass sie vor ihren Augen auf dem Fußboden zersplitterte.
    Sie hob eine der spitzen Scherben auf.
    Sie dachte nicht, presste nur das spitze Glas in die Handfläche, und der Schmerz fühlte sich gut, fühlte sich richtig an. Der Stichlingsschwarm in ihrem Körper schoss zu diesem Schmerzpunkt. Blut quoll hervor. Sie presste die Hand an die Lippen und leckte, saugte, und ihre Unruhe legte sich. Erleichtert brach sie in Tränen aus, während sie ihre Hand an einer neuen Stelle punktierte und weitersaugte. Der Geschmack des Bluts vermischte sich mit dem von Tränen.
    Zusammengekauert auf dem Küchenfußboden sitzend, die Hand auf den Mund gepresst, gierig saugend wie ein neugeborenes Kind, das zum ersten Mal die Brust seiner Mutter findet, fühlte sie sich zum zweiten Mal an diesem grauenvollen Tag ganz ruhig.
    Eine gute halbe Stunde nachdem sie sich vom Fußboden erhoben, die Glasscherben zusammengekehrt und sich ein Pflaster auf die Hand geklebt hatte, meldete sich die Unruhe zurück. Das war der Moment gewesen, in dem Lacke an der Tür geklingelt hatte.
    Als sie ihn abgewiesen und die Tür abgeschlossen hatte, ging sie in die Küche und legte die Pralinenschachtel in die Speisekammer. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl und versuchte zu verstehen, aber ihre innere Unruhe ließ es nicht zu. Schon bald war sie wieder auf den Beinen. Sie wusste nur, dass niemand bei ihr sein durfte, schon gar nicht Lacke. Sie würde ihm etwas antun. Die Unruhe

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