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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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verwahren, woraufhin sich seine Gedanken der Frage zuwandten, was zum Teufel er mit Oskar anstellen sollte.
     
    Das Schafbild sollte den Startschuss zu einer kleineren Debatte über die Bildethik der Presse bilden, war aber nichtsdestotrotz in beiden großen Abendzeitungen Teil des traditionellen Jahresrückblicks auf die besten Schnappschüsse des Jahres. Der eingefangene Widder wurde im Frühsommer zu den Weiden in der Nähe von Schloss Drottningholm getrieben und erfuhr niemals etwas von seinem Tag im Rampenlicht.
    *
    Virginia ruht in Decken und Tücher gehüllt. Die Augen sind geschlossen, der Körper regungslos. Bald wird sie erwachen. Elf Stunden hat sie so gelegen. Die Körpertemperatur ist auf siebenundzwanzig Grad gesunken, was der Lufttemperatur im Kleiderschrank entspricht. Ihr Herz schlägt vier Mal in der Minute ganz schwach.
    Während dieser elf Stunden hat sich ihr Körper unwiderruflich verwandelt. Magen und Lunge haben sich einer neuen Art von Leben angepasst. Das Interessanteste aus medizinischer Sicht ist eine noch im Wachstum befindliche Zyste im Sinusknoten des Herzens, jenem Zellhaufen, der die Kontraktionen des Herzens steuert. Die Größe der Zyste hat sich inzwischen verdoppelt. Ein krebsähnliches Wuchern fremder Zellen schreitet ungehemmt fort.
    Könnte man eine Probe dieser fremden Zellen entnehmen und die Probe unter ein Mikroskop legen, würde man etwas erblicken, das alle Herzspezialisten damit abtun würden, dass irgendwelche Laborproben verwechselt wurden. Ein geschmackloser Scherz.
    Die Geschwulst im Sinusknoten besteht nämlich aus Gehirnzellen.
    Ja. In Virginias Herz bildet sich ein separates, kleines Gehirn heraus. Dieses neue Gehirn ist während seines Aufbaus abhängig vom großen Gehirn gewesen. Nun aber ist es eigenständig lebensfähig, und was Virginia für die Dauer eines schrecklichen Moments empfand, ist völlig zutreffend: Es würde leben, selbst wenn der Körper starb.
    Virginia schlug die Augen auf und wusste, sie war wach. Sie wusste es, obwohl das Anheben der Lider keinen Unterschied machte. Es war noch so dunkel wie zuvor. Aber ihr Bewusstsein wurde eingeschaltet. Ja. Ihr Bewusstsein erwachte zum Leben, und gleichzeitig gab es da etwas anderes, das sich schnell zurückzog.
    Wie …
    Wie wenn man ein Sommerhaus betritt, das den Winter über leer gestanden hat. Man öffnet die Tür und streckt sich nach dem Lichtschalter, und wenn man das Licht einschaltet, hört man im gleichen Moment das schnelle Klackern, Scharren kleiner Krallen auf dem Fußboden, und man erhascht einen Blick auf die Ratte, die unter der Spüle verschwindet.
    Ein unangenehmes Gefühl. Man weiß, dass sie dort gelebt hat, während man fort war, dass sie dieses Haus als das ihre betrachtet und wieder hervorkriechen wird, sobald man das Licht löscht.
    Ich bin nicht allein.
    Ihr Mund fühlte sich an wie Papier. Sie hatte kein Gefühl in der Zunge. Sie blieb liegen und dachte an das Sommerhaus, das sie und Per, Lenas Vater, ein paar Sommer lang gemietet hatten, als Lena noch klein war.
    An das Rattennest, das sie ganz hinten unter der Spüle gefunden hatten. Die Ratten hatten kleine Stücke einiger leerer Milchpakete und einer Cornflakesverpackung kleingebissen, sich eine Art kleines Haus gebaut, eine fantastische Konstruktion aus bunten Papierschnipseln.
    Virginia hatte sich irgendwie schuldig gefühlt, als sie das kleine Haus mit dem Staubsauger entfernt hatte. Nein, mehr als das. Es war das abergläubische Gefühl eines Frevels gewesen. Als sie den kalten, mechanischen Schnabel des Staubsaugers in die feine, zerbrechliche Konstruktion stieß, die von der Ratte den Winter über erbaut worden war, hatte sie das Gefühl, einen guten Geist in die Flucht zu schlagen.
    Und ganz richtig. Als die Ratte nicht in die Fallen ging, sondern weiter von ihren Vorräten fraß, obwohl es Sommer war, hatte Per Rattengift ausgestreut. Sie hatten sich deshalb gestritten. Sie hatten sich auch über andere Dinge gestritten. Über alles. Anfang Juli war die Ratte irgendwo in der Wand gestorben.
    Je mehr sich der Gestank des toten, verwesenden Rattenkörpers in dem Haus ausbreitete, desto stärker war ihre Ehe in diesem Sommer verwittert. Schließlich waren sie eine Woche früher als geplant nach Hause gefahren, weil sie den Gestank und einander nicht länger ertragen konnten. Der gute Geist hatte sie verlassen.
    Was ist aus dem Haus geworden? Wohnen dort jetzt andere Leute?
    Sie hörte ein Fiepen, ein Zischen.
    Es ist

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