So finster die Nacht
wirklich eine Ratte! In den Decken!
Sie geriet in Panik.
Noch eingewickelt warf sie sich zur Seite, traf die Schranktüren, sodass sie aufschwangen, und plumpste auf den Fußboden hinaus. Sie trat mit den Beinen, fuchtelte mit den Armen, bis es ihr endlich gelang, sich zu befreien. Angeekelt kroch sie auf das Bett, in die Zimmerecke, zog die Knie unters Kinn, starrte auf den Deckenhaufen, wartete auf eine Bewegung. Wenn sie kam, würde sie schreien. So laut schreien, dass das ganze Haus mit Hämmern, Äxten hinzueilte und auf den Deckenhaufen einschlug, bis die Ratte tot war.
Die Decke, die zuoberst lag, war grün, mit blauen Punkten. War da nicht eine Bewegung? Sie holte Luft, um zu schreien, und das Fiepen, Zischen ertönte erneut.
Ich … atme.
Ja genau. Es war das Letzte gewesen, was sie festgestellt hatte, bevor sie einschlief; dass sie nicht atmete. Jetzt atmete sie wieder. Sie sog prüfend Luft ein und hörte das Fiepen, das Zischen. Es kam aus ihrer Luftröhre. Während sie geruht hatte, war sie eingetrocknet, gab jetzt Laute von sich. Sie räusperte sich und hatte einen verrotteten Geschmack im Mund.
Sie erinnerte sich. An alles.
Sie betrachtete ihre Arme. Sie waren von Striemen getrockneten Blutes bedeckt, aber es ließen sich weder Wunden noch Narben entdecken. Sie fixierte den Punkt in der Armbeuge, an dem sie sich mindestens zwei Mal geschnitten hatte. Möglicherweise ein schwacher Streifen rosa gefärbter Haut. Ja. Eventuell. Ansonsten war alles verheilt.
Sie rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Viertel nach sechs. Es war Abend. Dunkel. Erneut betrachtete sie die grüne Decke, die blauen Punkte.
Woher kommt das Licht?
Die Lampe an der Decke war aus, draußen war es dunkel, die Jalousien waren heruntergelassen. Wie war es dann möglich, dass sie alle Konturen und Farbtöne so deutlich sah? In dem Schrank war es stockfinster gewesen. Dort hatte sie nichts gesehen. Aber jetzt … es war wie mitten am helllichten Tag.
Ein bisschen Licht sickert immer durch.
Atmete sie?
Es ließ sich nicht kontrollieren. Sobald sie anfing, ans Atmen zu denken, fing sie auch an, ihre Atmung zu steuern. Vielleicht atmete sie ja nur, wenn sie daran dachte.
Aber dieser erste Atemzug, den sie für eine Ratte gehalten hatte … an den hatte sie nicht gedacht. Obwohl er vielleicht nur gewesen war wie ein … wie ein …
Sie kniff die Augen zusammen.
Ted.
Sie war bei seiner Geburt dabei gewesen. Den Mann, der Teds Vater war, hatte Lena nach der Nacht, in der Ted gezeugt wurde, nie mehr gesehen. Er war irgendein finnischer Geschäftsmann, der an einer Konferenz in Stockholm teilnahm und so weiter. Also war Virginia bei der Entbindung dabei gewesen, hatte ihre Tochter dazu überredet, dabei sein zu dürfen.
Und jetzt fiel er ihr wieder ein. Teds erster Atemzug.
Und wie er herausgekommen war. Der kleine Körper, klebrig, lila, kaum menschlich. Die Explosion des Glücks in ihrer Brust, die sich in eine Wolke aus Sorge verwandelte, als er nicht atmete. Die Hebamme hatte das kleine Wesen seelenruhig in ihre Hände genommen. Virginia hatte geglaubt, dass sie den Körper mit dem Kopf nach unten halten, ihm einen Klaps auf den Po geben würde, aber als die Hebamme ihn in ihre Hände nahm, bildete sich eine Speichelblase vor seinem Mund. Eine Blase, die wuchs, wuchs … platzte. Und dann kam der Schrei, der erste Schrei. Und er atmete.
So?
War Virginias erster, fiepender Atemzug das gewesen? Ein … Geburtsschrei?
Sie streckte sich, legte sich auf dem Rücken ins Bett. Fuhr fort, ihren inneren Film von der Entbindung abzuspulen. Wie sie Ted hatte waschen dürfen, weil Lena zu mitgenommen gewesen war, viel Blut verloren hatte. Ja. Nach Teds Geburt war es auf den Entbindungstisch gelaufen, und die Krankenschwester hatte große Mengen Papier herbeigeschafft. Mit der Zeit hatte die Blutung von alleine aufgehört.
Der Haufen durchgeblutetes Papier, die dunkelroten Hände der Hebamme. Die Ruhe, die Effektivität trotz des vielen … Blutes. Des vielen Blutes.
Durst.
Ihr Mund war klebrig trocken, und sie spulte den Film vor und zurück, zoomte auf alles, was blutüberströmt war; die Hände der Hebamme, mit der Zunge über diese Hände zu fahren, die durchtränkten Wattebäusche auf dem Fußboden, sie in den Mund zu stecken und an ihnen zu saugen, Lenas Schoß, aus dem das Blut in einem dünnen Rinnsal floss, es …
Sie setzte sich mit einem Ruck auf, lief geduckt ins Badezimmer und riss den Toilettendeckel hoch, beugte
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