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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Kräfte.
    »Es ist so … dass ich … dass wir, um Ihnen besser helfen zu können, eine kleine Probe …«
    Virginia schloss die Augen, seufzte, gab auf. Dann sagte sie: »Könnten Sie bitte die Jalousien hochziehen?«
    Die Krankenschwester nickte und ging zum Fenster. Währenddessen strampelte Virginia die Decke von sich, lag mit entblößtem Körper im Bett. Hielt die Luft an. Schloss die Augen.
    Es war vorbei. Jetzt wollte sie abgeschaltet werden. Die gleichen Funktionen, gegen die sie den ganzen Morgen angekämpft hatte, versuchte sie nun bewusst in Gang zu setzen. Doch das klappte nicht. Stattdessen stellte sich ein, worüber man immer spricht; ihr Leben zog wie ein Filmstreifen im Schnelldurchlauf an ihr vorbei.
    Der Vogel, den ich in einem Pappkarton hatte … der Duft frisch gemangelter Laken in der Waschküche … Mama, die sich über die Krümel der Zimtschnecken beugt … Papa … der Rauch seiner Pfeife … Per … das Sommerhaus … Lena und ich, der große Pfifferling, den wir in jenem Sommer fanden … Ted mit Blaubeermus auf der Wange … Lacke, sein Rücken … Lacke …
    Ein klirrendes Rasseln ertönte, als die Jalousien hochgezogen wurden, und sie wurde in ein Meer aus Feuer gesogen.
    *
    Oskar war wie üblich um zehn nach sieben von Mama geweckt worden. Er war wie üblich aufgestanden und hatte gefrühstückt. Er hatte sich wie üblich angezogen und anschließend Mama gegen halb acht zum Abschied umarmt.
    Er fühlte sich wie üblich.
    Voller Sorge, schlimmer Vorahnungen, sicher. Doch auch das war nicht weiter ungewöhnlich, wenn er den ersten Tag nach dem Wochenende wieder in die Schule gehen sollte.
    Er packte das Erdkundebuch, den Atlas und das Arbeitsblatt, das er nicht gemacht hatte, in den Ranzen, war um fünf nach halb acht fertig, musste aber erst in einer Viertelstunde los. Sollte er das Arbeitsblatt noch schnell machen? Nein. Keine Lust.
    Er setzte sich an seinen Schreibtisch, sah die Wand an.
    Hieß dies, dass er sich nicht angesteckt hatte? Oder gab es eine Inkubationszeit? Nein. Dieser Typ … bei ihm hatte es ja nur ein paar Stunden gedauert.
    Ich bin nicht infiziert.
    Eigentlich hätte er froh, erleichtert sein sollen, aber er war es nicht. Das Telefon klingelte.
    Eli! Es ist etwas passiert mit …
    Er stand abrupt vom Tisch auf, rannte in den Flur, riss den Telefonhörer an sich.
    »HallohiersprichtOskar!«
    »Ja … hallo.«
    Papa. Nur Papa.
    »Hallo.«
    »Tja, du bist also … zu Hause.«
    »Ich bin auf dem Sprung in die Schule.«
    »Aha, dann will ich dich nicht … ist Mama zu Hause?«
    »Nein, sie ist zur Arbeit.«
    »Ja, habe ich mir gedacht.«
    Oskar begriff. Deshalb rief er um diese seltsame Uhrzeit an; weil er wusste, dass Mama nicht zu Hause war. Papa räusperte sich.
    »Ja also, ich dachte nur … das am Samstag. Das war ja ein bisschen … unglücklich.«
    »Ja.«
    »Ja. Hast du Mama erzählt … was los war?«
    »Was glaubst du?«
    Es wurde still am anderen Ende. Das statische Rauschen von hundert Kilometern Telefonleitungen. Krähen, die auf ihnen kauerten, während die Gespräche der Menschen unter ihren Krallen vorbeisausten. Papa räusperte sich wieder.
    »Ach übrigens, ich habe nach den Schlittschuhen gefragt, und es geht in Ordnung. Du kannst sie haben.«
    »Ich muss jetzt gehen.«
    »Ja, schon klar. Dann noch … dann noch viel Spaß in der Schule.«
    »Ja. Tschüss.«
    Oskar legte den Hörer auf, nahm seinen Ranzen und machte sich auf den Weg in die Schule.
    Er fühlte nichts.
     
    Noch fünf Minuten, bis die Stunde anfing, und einige aus seiner Klasse standen im Gang vor dem Klassenzimmer. Oskar zögerte einen Moment, warf sich dann den Ranzen auf den Rücken und ging zum Klassenzimmer. Alle sahen sich nach ihm um.
    Spießrutenlauf. Gruppenkeile.
    Ja, er hatte das Schlimmste befürchtet. Alle wussten natürlich, was am Donnerstag mit Jonny passiert war, und obwohl er Jonnys Gesicht nicht unter den Umstehenden entdeckte, war es jedenfalls Mickes Version, die sie am Freitag gehört hatten. Micke war da und lächelte wie üblich sein Idiotenlächeln.
    Statt langsamer zu gehen, irgendwie fluchtbereit zu sein, verlängerte er seine Schritte, ging schnell zum Klassenzimmer. Er war innerlich leer. Es interessierte ihn nicht mehr, was passierte. Es war nicht wichtig.
    Und natürlich: Das Wunder geschah. Das Meer teilte sich.
    Die Gruppe vor dem Klassenzimmer löste sich auf, machte für Oskar den Weg zur Tür frei. Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. Ob es nun

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