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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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laut:
    »Hallo. Hier spricht die Polizei. Hören Sie mich?«
    Der Mann auf den Kacheln gab durch nichts zu verstehen, dass er Staffan hörte, ließ nur weiter mit dem Gesicht zum Boden dieses einförmige Geräusch hören. Staffan trat zwei Schritte näher.
    »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
    Der Mann rührte sich nicht. Aber nachdem Staffan nun näher gekommen war, konnte er sehen, dass sein ganzer Körper zuckte. Das mit den Händen war überflüssig. Ein Arm lag auf dem Papierkorb, der andere ausgestreckt auf dem Fußboden. Die Handflächen waren geschwollen und rissig.
    Säure … wie mag er aussehen …
    Staffan hielt sich erneut das Taschentuch vor den Mund und ging zu dem Mann, während er die Pistole ins Halfter zurücksteckte, sich darauf verließ, dass Holmberg ihn deckte, falls etwas passierte.
    Der Körper zuckte krampfhaft, und man hörte weiche, schmatzende Laute, wenn die nackte Haut von den Kacheln gezogen wurde und sich erneut festsaugte. Die Hand, die auf dem Boden lag, hüpfte wie eine Flunder auf einem Felsen. Und die ganze Zeit drang, zum Boden hinab, dieses Geräusch aus dem Mund:
    »… eeiiieeeeiii …«
    Staffan gab Holmberg durch Zeichen zu verstehen, zwei, drei Schritte zurückzubleiben, und ging neben dem Körper in die Hocke.
    »Können Sie mich hören?«
    Der Mann verstummte. Plötzlich verdrehte sich der ganze Körper in einem Krampf und rollte herum.
    Das Gesicht.
    Staffan schreckte zurück, rutschte aus und landete auf dem Steißbein. Er biss die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien, als der Schmerz fächerförmig in sein Kreuz ausstrahlte. Er kniff die Augen zusammen. Öffnete sie wieder.
    Er hat kein Gesicht.
    Staffan hatte einmal einen Fixer gesehen, der seinen Kopf im Drogenrausch mehrfach gegen eine Wand gehämmert hatte. Er hatte einen Mann gesehen, der an einem Benzintank geschweißt hatte, ohne den Tank vorher zu leeren, woraufhin ihm der Tank ins Gesicht explodiert war.
    Doch nichts von all dem ähnelte diesem Anblick auch nur annähernd.
    Die Nase war weggeätzt worden, und wo sie gesessen hatte, waren jetzt nur noch zwei Löcher im Kopf. Der Mund war zusammengeschmolzen, die Lippen bis auf einen kleinen Spalt im Mundwinkel versiegelt. Ein Auge war ausgelaufen auf das, was einmal eine Wange gewesen sein musste, aber das andere … das andere Auge stand weit offen.
    Staffan starrte in dieses Auge, das Einzige, was in der unförmigen Masse als etwas Menschliches wiedererkennbar war. Das Auge war rot unterlaufen, und als es zu zwinkern versuchte, war da nur ein halber Hautfetzen, der darüber herabflatterte und wieder hochgezogen wurde.
    Wo das restliche Gesicht hätte sein müssen, gab es nur noch Knorpel- und Knochenstücke, die zwischen unregelmäßig geformten Fleischpartien und schwarzen Stofffetzen herausstachen. Die nackten, glänzenden Muskelpartien zogen sich zusammen und entspannten sich, zappelten, als wäre der Kopf gegen ein Knäuel eben erst getöteter, zerhackter Aale eingetauscht worden.
    Das ganze Gesicht, was einmal ein Gesicht gewesen war, führte ein Eigenleben.
    Staffan musste würgen und hätte sich vermutlich übergeben, wenn sein Körper nicht so beschäftigt gewesen wäre, Schmerz in sein Rückgrat zu pumpen. Langsam zog er die Beine an und richtete sich auf die Schränke gestützt auf. Das gerötete Auge starrte ihn unablässig an.
    »Das ist das grauenvollste …«
    Holmberg ließ die Arme hängen und betrachtete den entstellten Körper auf dem Schwimmbadboden. Es war nicht nur das Gesicht. Die Säure hatte sich auch über den Oberkörper ergossen. Die Haut über einem Schlüsselbein war fort, und ein Teil des Knochens stach heraus, leuchtete weiß wie ein Stück Kreide in einem Frikassee.
    Holmberg schüttelte den Kopf, hob und senkte mehrmals die Hand. Er hustete.
    »Das ist das grauenvollste …«
    *
    Es war elf Uhr, Oskar lag im Bett. Vorsichtig klopfte er die Buchstaben in die Wand.
    E … L … I …
    E … L … I
    Keine Antwort.

FREITAG, 30. OKTOBER
    Die Jungen der Klasse 6 b standen in einer Reihe auf dem Gang unterhalb der Schule und warteten darauf, dass Lehrer Ávila ihnen grünes Licht gab. Alle hatten Sportbeutel oder Taschen in den Händen, denn gnade Gott jedem, der seine Sachen vergessen hatte oder keine überzeugenden Gründe vorbringen konnte, dem Sportunterricht fernzubleiben.
    Sie standen im Abstand einer Armlänge voneinander entfernt, wie der Sportlehrer es ihnen an ihrem ersten Tag in der vierten Klasse

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