So finster, so kalt
erkannte.
Dann biss er zu.
Merle schrie. Sie lief. Aber es war die falsche Richtung. Der Wolf trieb sie von den Bäumen weg. Sie rannte um ihr Leben.
Dann fiel sie ins Bodenlose. Sie ruderte hilflos mit den Armen. Ihr eigener Schrei blieb hinter ihr zurück.
*
»Was ist los?« Die ersten schlaftrunkenen Worte drangen in Merles Bewusstsein. Ihr Hals war rauh und trocken. Sie schrie und schlug um sich.
Licht flammte auf. Ein großer Schatten bewegte sich. Merle kreischte vor Panik. Der Alptraum wurde Realität. Sie kniff die Augen zusammen, bis sie Sterne sah.
»Mensch, beruhige dich doch, es ist alles gut!«
Die Worte hatten keine Bedeutung. Gleich schlug das Monster seine Zähne in ihre Brust. Sie krallte sich an die Bettdecke.
»Ich bin das! Es ist in Ordnung! Ich bin es, Jakob.«
Hände langten nach ihr. Merle wimmerte. Sie hatte keine Kraft mehr. Es war vorbei.
»Hab keine Angst. Du hast schlecht geträumt.« Die dunkle Stimme wurde leiser, während sie unablässig beruhigende Worte murmelte.
Merle lag stocksteif und wagte nicht, sich zu rühren. Sie durfte nicht auf das Blendwerk des Wesens hereinfallen, sonst war sie für immer verloren.
Eine Hand streichelte ganz sanft über ihren Arm. Wie lange schon?
»Mach die Augen auf. Sieh mich an. Es ist alles gut. Niemand tut dir etwas.«
Widerwillig gehorchte Merle. Sie zitterte vor Anspannung. Jakobs Gesicht war über ihr. Wirre Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Augen, dunkel wie Torf, blickten sie besorgt an. Kein Bernstein. Keine Wolfsaugen. Kein Monster.
Trotzdem, sie musste es wissen. »Bist du der Wolf?«
»Was? Also.« Die streichelnde Hand hielt verwirrt inne. »Meinst du meinen Namen? Ja, ich bin Jakob Wolff.«
Er verstand nicht. Natürlich. Wie sollte er?
»Es war nur ein Traum«, fügte er unsicher hinzu.
Merle schüttelte hilflos den Kopf und ließ zu, dass er sie in seine Arme zog und wiegte wie ein Kind. Endlich kam sie wieder zu sich.
»Es tut mir leid, Merle, wirklich. Das war alles etwas viel gestern Abend.« Sie hörte ein betretenes Lächeln in seiner Stimme. »Das ist sonst nicht meine Art. Also, ich meine … eigentlich eher gar nicht. So etwas habe ich noch nie gemacht. Soll ich gehen?«
»Bitte nicht!« Merle schüttelte heftig den Kopf gegen seine warme Brust. »Lass mich heute Nacht nicht allein, hörst du?«
»Es war nur ein Traum.«
Es war so gut, einen Menschen zu fühlen. Jakob war aus Fleisch und Blut. Unter seiner Haut konnte sie seinen Herzschlag hören, der sich, wie ihrer, langsam wieder beruhigte.
Merle wischte sich durch das schweißnasse Gesicht. Alles war wieder normal.
»Hast du das öfter?«, fragte er.
»Was?«
»Solche Alpträume?«
»In letzter Zeit, ja.«
»Wir reden morgen darüber.« Jakob legte sich halb auf den Rücken und zog sie an sich. Es musste unbequem für ihn sein, aber Merle wollte ihn um keinen Preis der Welt loslassen. Diese Berührung erschien ihr im Augenblick wie die einzige Barriere zwischen sich und dem Wahnsinn.
Er drückte sie sanft an sich. »Soll ich das Licht anlassen?«
»Nein. Aber lass mich nicht los.«
»Ich halte dich fest. Hab keine Angst.«
Fünf
Zuflucht
V iel zu schnell blieb vom Wochenende nicht mehr als ein schöner Traum, eine vage Erinnerung. Der Alltag überrollte Merle mit aller Macht, und während sie versuchte, verlorene Arbeitszeit einzuholen, kämpfte sie tagsüber gegen Stress und Michaels Granteleien, die er trotz seines angeblich so weltmännischen Gehabes nicht lassen konnte. Ohne die Nachrichten von Jakob, die sie mehrmals täglich auf ihrem Handy fand, hätte sie wohl geglaubt, die Begegnung mit ihm und die Beerdigung wären nur Einbildung gewesen.
Nachts kamen die Alpträume. Die Schlaflosigkeit setzte ihr langsam weit mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Je mehr sie sich wünschte, traumlos schlafen zu können, umso weniger gelang es ihr. Es war ein Teufelskreis. Dienstags hatte sie sich Schlaftabletten von ihrem Hausarzt verschreiben lassen, doch bisher lag die Packung ungeöffnet in ihrer Küche. Sie hoffte immer noch, dass sich die Angelegenheit von allein regelte.
Am Mittwochabend saß Merle erschöpft im Arbeitszimmer ihrer Wohnung und ertappte sich dabei, dass sie tatenlos aus dem Fenster starrte und sehnsüchtig darauf wartete, dass das Telefon klingelte. Vielleicht sollte sie einfach eine Pause machen. Sie wollte den Laptop gerade herunterfahren, als Skype einen Videoanruf ankündigte.
Hastig fuhren Merles Hände zur
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