So finster, so kalt
zu beweisen, ging Merle um das Bett herum und beugte sich über das Männlein. »Beißt es?« Ganz sanft biss sie in die weiche Haut, bis Jakob aufschrie.
»Bisher nicht! Aber das kann sich ändern, Mädchen!«
Sie kicherte. »Danke schön. Kommst du mit duschen?«
»Gern.« Jakob setzte sich auf die Bettkante, als Merle hinter ihm aufs Bett sprang und ihm half, das Hemd auszuziehen. Dann legte sie eine Hand um seine Hüfte und langte nach vorne.
»Das kitzelt! Du willst doch was!«, protestierte er mit gespielter Empörung.
Sie beugte sich an sein Ohr und blies ihren warmen Atem über seine Schulter. Er bekam eine Gänsehaut.
»Ich will einfach sehen«, flüsterte sie, »wie lange es dauert«, ihre Hand wanderte zwischen seine Beine und zupfte fordernd, »bis ich dir wieder Chrom von der Stoßstange polieren kann.« Stöhnend schloss Jakob die Augen.
*
Gelbe Wolfsaugen folgten ihr durch den Nebel. Sie leuchteten wie dunkler Bernstein inmitten der konturlosen Grautöne. Um sie herum war es kalt und feucht und einsam und trostlos.
Merle tappte umher. Sie hatte den großen Jäger längst bemerkt. Eine Zeitlang war sie ihm sogar gefolgt, in der Hoffnung, dass er sie irgendwohin führte. Hinaus in die Welt der Lebenden.
Es war ruhig, geradezu trügerisch friedlich. Außer dem Wolf war niemand da. Sie konnte nicht sagen, ob der Wolf Freund oder Feind war. Er hatte sein Rudel verloren. Ein einsamer Wolf war gefährlich. Das machte ihn unberechenbar. Aber genauso gut konnte es sein, dass ihm alles gleichgültig war, das Leben, die Liebe und die Menschen.
Jetzt beobachtete er sie. Er lag geduldig auf der Lauer und wartete. Wartete auf das, was kam.
Merle lief weiter. Ihre Füße tappten durch Bodenlosigkeit. Zu ihrem Erstaunen war sie nackt. Hatte sie bisher Kleidung getragen, wenn sie hier war? Der Gedanke verwehte, wie so viele vor ihm. Der Nebel umwaberte sie und bildete einen feuchten Film auf ihrer Haut. Merle wurde nervös. Sie lief schneller. Sie war schon zu lange hier. Sie kam seit Nächten hierher. Es war zu elender, nervenzehrender Routine geworden. Jedes Mal war es schlimm, aber das Erwachen war noch schlimmer.
Sie wusste das alles. Sie wusste, dass dies ein Traum war. Sie wusste, dass sie diesem Traum nicht entkommen konnte. Sie wusste, dass sie nicht aufwachte, bevor ihr Peiniger seinen Angriff versucht hatte.
Was passierte, wenn ihre Flucht einmal nicht gelang, wusste sie nicht.
Stille Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie ziellos weiterirrte. Sie war zu erschöpft, um Angst zu empfinden. Es gab nur noch eine beständige Unruhe in ihr.
Sie blieb stehen, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Jemand beobachtete sie. Er kam näher.
Merle begann zu laufen. Sie lief, so schnell sie konnte. Im Traum war ihre Ausdauer grenzenlos. Bisher war sie immer schneller gewesen und entkommen. Bisher.
Ein Schatten schoss an ihr vorbei. Sie sah, wie geschmeidig sich starke Muskeln unter grauem Fell bewegten. Bernsteinaugen blitzten auf. Der Wolf stand vor ihr, geduckt und bereit zum Sprung. Merle blieb stehen und schaute sich hastig um. Der Nebel um sie war viel heller als sonst, weiß mit dunkleren Schemen, knorrigen Bäumen vielleicht, wie in einem Wald.
Sie trat einen Schritt auf den Wolf zu. Seine Augen wurden dunkler, und er knurrte. Von seinem Fang tropften Speichel und Blut. Rote Tropfen fielen in den Nebel und leuchteten dort wie kleine Perlen.
Die Augen des Wolfes und das Blut waren die ersten Farben, die Merle in dieser Welt je zu Gesicht bekommen hatte.
Dann wusste sie, dass das Wesen kam. Trockenes Schaben, als ob sich alte Knochen aneinander reiben, kündeten von seinem Kommen. Dann ein undefinierbares Klacken, das Merle die eiskalte Panik bis ins Mark trieb.
Und wieder war sie von einem Augenblick zum nächsten unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
Der Wolf knurrte.
Das Klacken kam näher.
Merle wollte schreien und brachte keinen Laut über die Lippen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf ihre widerspenstigen Oberschenkel ein.
Der Wolf machte einen Satz und verfehlte Merle nur knapp. Brüllend landete er hinter ihr. Ein Blutstropfen fiel auf ihre Schulter.
Weiß wie Schnee – rot wie Blut – schwarz wie Ebenholz.
Sie musste in den Wald fliehen. Unter den Schemen, unter den Schatten der Bäume war sie sicher.
Der Kopf des Wolfes schwebte plötzlich unmittelbar vor ihrem Gesicht. Er war so nah, dass sie in den Augen des Tieres dunklere, grüne Flecken
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