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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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Tastatur und hätten beinahe ihre Kaffeetasse hinuntergefegt.
    »Papa, endlich!«
    Das Bild war verwackelt und hatte Störungen, aber der Mann, der ihr vor der rustikalen Kulisse einer kanadischen Hütte entgegengrinste, war zweifellos Theodor. Merle strahlte und hätte am liebsten mit den Fingern über den Bildschirm gestrichen, so erleichtert war sie. In diesem Moment hätte sie ohne zu zögern ihre Seele verpfändet, um ihren Vater nicht nur sehen und hören, sondern berühren zu können.
    Ungeduldig wartete sie, bis er Kamera und Headset zurechtgerückt hatte und sich mit verschränkten Armen zurücklehnte. Er trug tatsächlich eines dieser karierten Flanellhemden und hatte sich seit mehreren Tagen nicht rasiert. Genau so hatte sie sich ihn stets in Kanada vorgestellt.
    »Merle, so sehnsüchtig hast du mich schon lange nicht mehr begrüßt. Was gibt es denn?«
    »Hast du nicht gesehen, dass ich mindestens tausendmal versucht habe, dich anzurufen?«
    Theodor zog eine schuldbewusste Grimasse, bevor er eine wegwerfende Geste machte. »Das Handy ist im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runtergegangen. Ist mir beim Fischen aus der Hose gefallen. Es war nur das Ersatzgerät, kein Verlust. Aber für das andere hatte ich bislang kein passendes Ladekabel. Ab jetzt bin ich wieder erreichbar.« Da Merle nicht antwortete, beugte er sich zum Bildschirm und runzelte die Stirn. »Meine Kleine, was ist passiert?«
    »Omi ist tot.« Merle versagte die Stimme. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie gerade im Begriff war, Papa die Reise seines Lebens zu versauen. Was änderte es, wenn er abbrach und zurückkam? Alles war geregelt, und sie konnte nächste Woche in aller Ruhe nach Steinberg und sich um das Häuschen kümmern.
    Ihr Vater senkte den Kopf und faltete die Hände zusammen, als wolle er beten. Dann schüttelte er ganz sanft den Kopf, hob die Schultern und atmete durch.
    Merle stützte die Ellbogen auf und schlug die Hände vor den Mund. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
    »Wann?«, fragte er endlich tonlos.
    »Vorletzten Sonntag schon. Sie wurde am Freitag beerdigt. Ich war da. Björn und seine Frau haben sich um das meiste gekümmert. Sie sehen nach Omis Häuschen.«
    Zu Merles Überraschung schüttelte ihr Vater entschieden den Kopf. »Das reicht nicht.« Er beugte sich noch etwas nach vorne, und auf Merle wirkte es, als lege er eindringlich die Hände an den Bildschirm. »Merle, du musst sofort dorthin und im Haus bleiben, bis ich wiederkomme. Es kann nicht allein sein.«
    »Wer kann nicht allein sein? Das Haus?«
    »Ja. Ich meine, nein, natürlich nicht das Haus. Das Haus ist ein Haus. Aber es ist wichtig, dass jemand dort ist und aufpasst, dass sich niemand auf dem Grundstück herumtreibt.«
    »Wer soll sich dort herumtreiben, außer ein paar Kaninchen?«
    »Kinder, Nachbarn, Wanderer. Was weiß ich. Mago ist das extrem wichtig.« Er hielt inne. »Ich bin ungefähr sechshundert Kilometer vom nächsten größeren Flughafen entfernt. Ich breche augenblicklich auf und versuche, so schnell wie möglich einen Flug nach Vancouver und weiter nach Hause zu bekommen. Aber bis dahin musst du nach Steinberg, Merle!«
    Der unheilvolle Nachdruck in seiner Stimmte jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken. Was war mit ihrem Vater los?
    »Hör zu, Papa, du musst nicht kommen. Es ist doch ohnehin zu spät. Ich kann mich gern ab nächster Woche um das Haus kümmern, das wollte ich sowieso. Aber ich habe morgen einen Prozess, bekomme am Wochenende Besuch, und Montag ist noch ein sehr wichtiger Termin. Danach habe ich Urlaub. Was soll schon in der Zwischenzeit passieren?«
    Mit einem Mal sah ihr Vater verloren aus, als realisierte er gerade erst, was er erfahren hatte. Er stierte an der Kamera vorbei, vermutlich auf eine Wand. Hinter seinem Rücken erkannte Merle Leute, die mit Tabletts und Flaschen auf und ab gingen. Papa musste in einem Rasthof oder etwas Ähnlichem sein.
    »Warst du am Haus?«, wollte er endlich wissen.
    Merle verneinte. »Aber Björn hat mir einen dicken Umschlag mit Papieren gegeben.«
    Ihr Vater sah sie wieder an. »War da eine Anleitung drin? Was man beachten sollte, wenn man in dem Haus lebt? Wo man bestimmte Dinge findet, irgendetwas in der Art?«
    »Warte.« Merle stand auf, nahm den Umschlag aus einem Bücherregal und leerte den Inhalt vollständig auf dem Schreibtisch aus. Sie erzählte ihrem Vater kurz von dem merkwürdigen lateinischen Dokument und der Analyse des Leipziger

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