So finster, so kalt
Professors, doch das interessierte ihn nicht weiter. Dann fand sie tatsächlich ein dünnes Heft, das sie bisher nicht beachtet hatte und dessen erste Seiten ihre Großmutter in umständlichem Sütterlin vollgeschrieben hatte.
»Hier stehen ein paar Dinge. Aber es ist nicht vollständig, es sind nur ein paar Seiten.«
Ihr Vater nickte seufzend und schwieg, als hätte er genau so etwas erwartet.
»Willst du mir nicht einfach erklären, was denn daran so wichtig ist?«
»Ich weiß es doch selbst nicht.« Er hob hilflos die Hände, griff nach einer Tasse, trank etwas und lehnte sich wieder zurück. »Du weißt doch, wie sie war. Sie bestand darauf, dass ich nach ihrem Tod in das Häuschen ziehe. Es war ihr extrem wichtig, dass ich es so schnell wie möglich tun würde. Ich kann mir grundsätzlich vorstellen, dort zu leben, habe sogar schon mit ein paar Handwerkern gesprochen, wie man das alte Schätzchen auf einen neueren Stand bringt.« Er holte Luft, als wolle er sich selbst davon abhalten, abzuschweifen. »Jedenfalls gab es angeblich eine Menge zu beachten. Aber sie hat mir bisher kaum etwas erzählt. Jedes Mal, wenn sie davon anfing, fiel ihr dies ein, musste sie das noch erwähnen und so weiter. Dann verlor sie sich in Familiengeschichten.«
Merle wusste genau, wovon ihr Vater sprach. Omi war immer in Bewegung gewesen, ihr Mundwerk ebenso. Das Wesentliche trieb im langen Strom ihrer Erzählungen, Hinweise, Erinnerungen und Plaudereien oft unter der Oberfläche.
»Na, siehst du.« Merle lächelte ihm aufmunternd zu. »Da du mir keinen Grund nennen kannst, aus dem ich meinen Job aufs Spiel setzen und meinen Besuch ausladen sollte, muss es reichen, wenn ich Dienstag fahre.« Bei der Stelle mit dem Besuch spürte sie, wie ihre Gesichtszüge sich verklärten. Und natürlich war es Papa nicht entgangen. Sie biss sich verlegen auf die Unterlippe.
»Gibt es sonst noch Neuigkeiten?«, hakte er sofort nach.
»Ich habe mich von Michael getrennt.«
Ihr Vater zog schweigend die Brauen hoch. »Und der Besuch? Ist das jemand, den ich kennen sollte?«, fragte er streng.
»Er heißt Jakob Wolff und ist promovierter Germanist. Wir haben uns gut verstanden, mehr nicht.«
Das war ein bisschen untertrieben. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht war Jakob nach seinem Termin mit seiner Reisetasche zurückgekehrt, bis Montagmorgen geblieben und erst dann nach Freiburg zurückgefahren. Seitdem hatten sie täglich telefoniert und vereinbart, sich am kommenden Wochenende wiederzusehen. Nein, morgen Abend schon, wie Merle schlagartig bewusst wurde.
»Nennt man das so: Gut verstanden? Auf diese Weise habe ich dich lange nicht mehr lächeln sehen.« Die Stimme ihres Vaters wurde weicher, und sie war froh, dass er nicht weiter fragte. Sie kam sich über zwanzig Jahre jünger vor. Das Flattern in ihrem Magen, wenn sie an Jakob dachte, machte es nicht besser. Sie lachte. »Sag jetzt besser nichts, Papa.«
»Schon gut, mein Mädchen. Ich möchte nur, dass du glücklich bist.«
Merle lächelte ihm verlegen zu. Wieder mischte er sich nicht ein, dabei waren ihm sicherlich die halben Rocky Mountains vom Herzen gefallen. Er hatte Michael von Anfang an nicht gemocht. Merle hoffte, dass er sich mit Jakob besser verstehen würde. Falls er ihn je kennenlernen würde, hieß das. Insgeheim befürchtete Merle nämlich noch immer, dass ihr Germanist irgendwo Frau und Kind versorgte. Oder schwer verschuldet war und versuchte, bei ihr an Geld zu kommen. Oder bald nach Tahiti auswandern wollte. Oder sonst ein dunkles Geheimnis hütete. Dieser Mann war ein Märchenprinz. Es war zu schön, um wahr zu sein.
Ihr Gesicht musste ihre Gedanken preisgegeben haben, denn ihr Vater nickte ihr aufmunternd zu. »Manche Dinge erscheinen zu schön, um wahr zu sein. Aber manchmal hat man einfach Glück.« Er lachte und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Er hatte seine Halbglatze vor dem Aufbruch nach Kanada komplett kahl rasiert, doch Merle konnte trotz der körnigen Videoübertragung wieder helle Stoppeln erkennen. Ihr stets korrekter Vater sah tatsächlich ein bisschen verwildert aus. Aber er strahlte Zufriedenheit aus – trotz des Schmerzes, der sich nach der Botschaft über den Tod seiner Mutter auf seine Züge gemalt hatte. Es musste dieses Gefühl sein, das Menschen verspürten, die sich nach vielen Jahren, in denen sie für andere da gewesen waren, endlich einmal um sich kümmerten.
Ein letztes Mal erwog sie, ihn vom Bleiben zu überzeugen, doch
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