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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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habe?«
    »Gern. Und heute Nachmittag könnten wir in die Stadt fahren.«
    Sie breiteten die Unterlagen auf dem Esstisch im Wohnzimmer aus. Als Jakob sich eine schmale Lesebrille aufsetzte, musste Merle kichern. Jetzt sah er wirklich wie ein strenger Oberlehrer aus, und ebenso missbilligend schielte er über das randlose Glas. »Was denn?«
    »Nichts, nein, gar nichts.«
    Betont sorgfältig rückte er die Papiere zurecht, ohne sie dabei anzusehen. War er etwa wirklich beleidigt? Sofort bereute Merle ihre Reaktion auf die Brille, doch schon seufzte Jakob übertrieben auf. »Mach dich nur lustig über den alten Mann. Ich habe vor sechs Jahren Unsummen für eine Laseroperation ausgegeben, um endlich ohne Kontaktlinsen sehen zu können. Tja, und jetzt fängt diese blöde Altersweitsichtigkeit an. Das wird dir noch genauso ergehen.«
    »Was glaubst du eigentlich, wie alt ich bin?« Sie griff nach einem Stückchen Papier und begann, es zu einem Kügelchen zu drehen.
    »War das nicht eine von den Fragen, die man einer Frau nie beantworten sollte?«
    »Ich bin zweiundvierzig und schätze, dass wir ungefähr gleich alt sind.«
    »Echt jetzt?« Jakob sah sie ungläubig an. »Ich hätte dich locker vier bis sechs Jahre jünger geschätzt. Na toll, ich sehe dagegen so alt aus, wie ich bin: zwei Jahre älter als du und trage immer noch gern Jeans und Chucks. Seltsam, oder?«
    »Mir gefällt es.« Merle lächelte aufrichtig. »Ich würde dich auf keinen Fall gegen einen jüngeren Mann eintauschen.«
    »Soso, aber gegen einen älteren, was?« Er grinste frech.
    »Das hab ich doch gar nicht gesagt, nein!« Sie warf mit gespielter Empörung das Papierkügelchen nach ihm, dem er spielend auswich.
    Es war schön, wieder kindisch sein zu dürfen. Mit Jakob zusammen zu sein versetzte Merle ein Stück weit in die Vergangenheit. Als die Welt noch einfach und ordentlich war und sie das simple Glück genießen konnte, mit jemandem zu lachen. Ein kleines bisschen war Jakob dem Jungen aus Jugendtagen ähnlich, den sie einst so sehr geliebt hatte. Sie beide hatten etwas urtümlich Erdverbundenes an sich, das bei Merle ein Verlangen weckte, zu der Person zurückzukehren, die sie einmal gewesen war. Nur dass Jakob eben kein Junge war, sondern durch und durch erwachsen und trotzdem keine Spaßbremse.
    Sie vertieften sich zunächst schweigend in das Schriftstück von Professor Rübezahl, wie Merle ihn inzwischen selbst nannte. Jakob hatte seinen eigenen Ausdruck, den sie ihm gescannt und geschickt hatte, mit vielen Randbemerkungen versehen.
    »Na gut, dann wollen wir mal«, sagte er, nahm die Brille ab und tippte sich unbewusst mit dem Bügel gegen die Wange. »Es gibt mehrere Elemente. Zunächst einmal glaube ich, dass dieser Hans vom Wald in diesem Dokument in der Tat dein Nachnamensgeber ist. Um das zu überprüfen, müssten wir uns aber durch ein paar alte Taufregister wühlen. Es gibt einen Geschichtsverein, der schon sogenannte Ortsfamilienbücher ins Netz gestellt hat. Das nehmen wir uns aber später vor, das läuft nicht weg.«
    Merle war einverstanden. Nachdenklich strich sie mit den Fingern eine Seite glatt. »Hans tut mir aufrichtig leid. Nachdem er Agnes ins Haus geholt hat, ist es zwar besser geworden, aber diese ganze Buße-Geschichte und dass er sich für alles verantwortlich macht, weil er kein gottgefälliges Leben führt, das stelle ich mit sehr hart vor. Das muss man sich mal vorstellen: Sobald er merkt, dass er Verlangen nach einer Frau hat, was doch völlig normal ist, geht er nicht zu Agnes ins Bett. Nein, er läuft in den Wald und geißelt sich. Prügelt sich selbst so heftig, dass er sich sogar die Hand noch mal bricht. Wie irre ist das?«
    Jakob sah sie völlig verblüfft an. »Woher weißt du das?«
    »Es stand in dem Dokument.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Doch. Woher sollte ich das sonst wissen?«
    »Deshalb frage ich. Es stand ganz sicher nicht im Text.«
    »Ach, Unsinn!«
    »Das lässt sich leicht überprüfen, oder?« Er griff nach seinem Ausdruck des Dokumentes, doch sie riss ihm die Papiere aus der Hand und begann darin zu blättern. Dann blätterte sie ein zweites Mal. Auch ein genaueres Lesen half nichts. Dort stand wirklich nichts davon. Merle glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie war sich ganz sicher, dass die Sache mit den Selbstgeißelungen stimmte. Sie sah es vor sich, sah Hans, wie er mit sich rang und … »Dann hat mir Omi das vielleicht erzählt, oder Papa«, stammelte sie zutiefst

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