So finster, so kalt
klar, dass niemand bei mir war!«, schob sie hastig nach. Dabei hätte sie nicht sagen können, wen sie davon eigentlich mehr überzeugen wollte, sich oder Jakob. Diese Unsicherheit machte sie wahnsinnig. Oder nein, vielmehr die Vorstellung, dass in der Nacht wirklich ein Wesen … nein. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein.
Jakob antwortete zunächst nicht. Dann hob er die Hand und streichelte ganz behutsam mit dem Daumen über ihre Wange, so dass Merle ein wohliger Schauder überlief. Schließlich stand er auf, holte einen Teller mit Gebäck, der auf der Anrichte bereitstand, und setzte sich wieder. Nachdem Merle abgelehnt hatte, nahm er selbst einen Keks und aß schweigend.
»Normalerweise gibt es für so etwas eine normale Erklärung«, sagte er endlich. »Das hört sich an wie eine Schlafstörung. Merle!« Als sie aufsah, setzte er sich ihr wieder gegenüber und ergriff ihre Hände. »Es gibt keine Druden, Hexen, Feen oder Märchenwesen. Wir finden heraus, was dich belastet.«
Jetzt hätte Merle am liebsten doch geweint. »Du glaubst mir nicht.« Konnte sie ihm das wirklich verdenken? Was glaubte sie selbst denn?
Doch seine Antwort überraschte sie: »Natürlich, ich glaube dir. Ich habe die Male doch gesehen.«
»Was?«
»In unserer ersten Nacht. Sie waren noch ganz frisch. Ich habe mich gefragt, wo sie herkommen, aber ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen. Wir kennen uns doch kaum. Später habe ich es vergessen.«
»Und was hast du vermutet?« Merle wurde plötzlich eiskalt. Unauffällig ließ sie Jakobs Hände los und lehnte sich zurück.
Er verzog nachdenklich den Mund und rieb sich das Kinn. »Habe ich auch vergessen. Irgendein Kampfsport oder so etwas. Es war mir nicht wichtig.« Er setzte sich die Brille wieder auf und hob mit einer auffordernden Geste die Papiere.
Merle nickte abwesend. Ihr kam sein hässliches Kobold-Tattoo wieder in den Sinn, und dass es sie an das Monster auf ihrer Brust erinnert hatte. Und jetzt das: Die Male waren ihm
nicht wichtig
gewesen. Weil es tatsächlich unwichtig war, oder weil er die Ursache kannte? War das wirklich nur ein dummer Zufall, dass sie einander ausgerechnet am Tag nach diesem schlimmsten aller Alpträume begegnet waren? Sie seufzte. Nein, dieses Wochenende stand wirklich unter keinem guten Stern. Dabei hatte sie sich so sehr darauf gefreut!
*
Auch die Einladung am Abend bei Volker und Jona verlief nicht ganz so, wie Merle es erwartet hatte. Volker eckte an, als er Jakob schon bei der Begrüßung »Märchenonkel« nannte und ein beunruhigendes Grinsen erntete. Damit war sonnenklar, dass die beiden keine Freunde werden würden. Sie kamen Merle vor wie zwei Rüden, die ihre Reviere markierten. Jakob lächelte wie ein Raubtier auf dem Sprung. Sie verstand es nicht. Volker hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein oder den brüderlichen Beschützer zu spielen.
Nach dem Essen lotste Merle ihren Freund und Gastgeber unter einem Vorwand in die Küche und sprach ihn an.
Volker verzog zunächst nur missmutig den Mund und räumte demonstrativ beschäftigt die Teller in die Spülmaschine. »Irgendwas ist an dem Typen seltsam. Du schreibst ihn an, und am nächsten Tag ist er ganz zufällig in Hamburg?«
»Na und? Solche Zufälle gibt es.«
»Ich weiß nicht. Ja, Merle, er ist nett und ganz sicher von einem anderen Schlag als Michael. Aber irgendwie wirkt sein verliebtes Getue aufgesetzt. Mir kommt das vor, als wollte er etwas von dir.«
»Und was wäre das, deiner Meinung nach?«
Volker verzog nachdenklich den Mund. »Geld, schnellen Sex, was weiß ich. Vielleicht ist der ein Stalker oder ein Psychopath.«
Merle schwieg. Hatte sie nicht heute Mittag erst ähnliche Gedanken gehabt? Andererseits hätte Jakob bereits Dutzende Gelegenheiten verpasst, ihr etwas anzutun. Es mochte zwar zum Repertoire von Stalkern und Psychopathen gehören, erst einmal alles normal laufen zu lassen – trotzdem konnte und wollte sie nicht gleich vom Allerschlimmsten ausgehen.
»Bisher fühlte es sich ganz wunderbar an.«
»Genau das meine ich. Der Typ ist zu schön, um wahr zu sein. Vielleicht ist er wirklich so toll, aber sei ein bisschen vorsichtig.« Volker richtete sich auf und sah Merle eindringlich an. »Eines sag ich dir: Du bist eine ganz einzigartige Frau. Ich bin nicht sicher, ob dein neuer Freund zu schätzen weiß, was für einen wunderbaren und wertvollen Menschen er da vor sich hat. Wenn ich höre, oder wenn ich nur den Verdacht habe, dass er dich
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