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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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verunsichert. Dabei wusste sie, dass dem nicht so war. Sie hatte es von Hans selbst erfahren – wie alles, was sie über ihn und sein Leben wusste. Sofern man bereit war, das Studium des Dokuments eine direkte Vermittlung zu nennen. Blut war eben doch dicker als Wasser, wie es so schön hieß.
    In dem Moment begriff Merle erst, wie nah sie die Worte des Mönches Bartholomäus, der in den letzten zwei Jahren von Hans’ Leben zu seinem Freund und Vertrauten wurde, an sich herangelassen hatte. Gab es doch so etwas, eine Art kollektives Unterbewusstsein, das sie mit ihren Ahnen teilte? Bisher hätte sie eine solche Idee als tiefenpsychologischen Quatsch abgetan. Im Moment erschien es ihr die einzig plausible Erklärung, obwohl sie ihr ganz und gar nicht gefiel. Wenn sie so weitermachte, würde sie demnächst noch an Geister oder Seelenwanderung glauben.
    Wieder musterte Jakob sie mit nur schwer verhüllter Verwunderung, die sie ihm nicht verdenken konnte. »Das wird es wohl sein«, erklärte er nach einer langen Pause schwerfällig. »Wo immer du dieses übersteigerte Bußverhalten nun herhast; es bringt mich auf den nächsten Punkt: Obwohl Hans katholisch und alle seine Nachfahren evangelisch waren, lese ich aus dem Text Anklänge keltischer Mythologie heraus. Da wäre einmal der Wald als Symbol für die Natur, dann der Konflikt der jungen Greta gegen die alte Frau im Haus. Das erscheint mir ein Hinweis auf die Vergänglichkeit und die Neugeburt zu sein. Ein natürlicher Kreislauf, in den Hans aus Versehen hineingestolpert ist. Das ist kein christliches Thema, daher bezweifle ich, dass Hans es sich ausgedacht hat. Er hätte eher ein biblisches Motiv gewählt: die Erscheinung der Jungfrau Maria oder eines Engels, irgendwas in der Richtung.«
    »Was meinst du damit? Selbst wenn er es sich nicht ausgedacht hat, sind die Aufzeichnungen dieses Mönches wohl kaum ein Tatsachenbericht! Für eine Zeugenaussage vor Gericht könnte ich das niemals verwenden.«
    Jakob grinste und nickte zustimmend. »Das ist genau mein Problem. Hans zeigt gewisse Züge religiösen Wahns, doch die ganzen anderen Passagen sind nüchterne Alltagsbeschreibungen. Er hat also entweder Dinge erlebt, die er, wie du bereits vermutet hast, in einem Code verschlüsselt wiedergibt, den wir noch nicht verstehen. Oder er hat wirklich etwas in der Art erlebt, ist aber nicht fähig, das wahre Geschehen in vernünftige Worte zu kleiden. Vergiss zum Beispiel nicht, dass er erst sechzehn oder siebzehn war, als die Geburt stattfand. Er hatte wenig Erfahrung mit diesen ganz natürlichen Vorgängen. Vielleicht hat ihn das Geschehen sehr schockiert, und Greta hat sogar vor Schmerzen um sich geschlagen.«
    »Was ist deine Vermutung?«
    »Ich weiß es noch nicht.« Jakob tippte nachdrücklich mit dem Finger auf das Papier. »An der ganzen Sache sind einige Aspekte, die mich stutzig machen, die nicht zusammenpassen. Ich erkenne aber noch kein Muster.« Er machte eine kurze Pause. »Dann diese Märchenanspielungen – die machen mich wahnsinnig, weil ich nicht durchblicke.
Hänsel und Gretel
ist klar, das springt einen regelrecht an. Als ich begonnen habe, den Text zu lesen, habe ich eigentlich eine Anspielung an
Brüderchen und Schwesterchen
erwartet. Kennst du das noch?«
    »Die beiden leben in einer Waldhütte bei einer Stiefmutter, die sich später als böse Hexe herausstellt. Sie verwandelt den Jungen in ein Reh.«
    »Genau, richtig. Aber hier verwandelt sich niemand. Das fühlt sich … falsch an. Das ist alles, was ich dir dazu sagen kann. Zuletzt bin ich noch auf das Märchen
Jorinde und Joringel
gestoßen. Die beiden sind aber keine Geschwister, sondern ein Liebespaar. Hier wird die junge Frau in eine Nachtigall verzaubert, bis ihr Geliebter sie erlöst. Da wir hier kein Liebespaar haben und wiederum die Verzauberung fehlt, können wir das vernachlässigen.«
    »Denke ich auch. Meinst du, dass der Schlüssel zum Verständnis in den Märchen liegt?«
    »Glaubst du das?«
    »Ja, klar.« Merle verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich folge mit den Vermutungen meiner Großmutter. Sonst hätte ich dich nicht angeschrieben.«
    »Gut, dass du es getan hast. Sonst hätte ich nicht so eine bezaubernde Märchenprinzessin kennengelernt.« Merle streckte Jakob zur Antwort auf sein süffisantes Lächeln die Zunge raus. Er lachte und fuhr fort: »Im Ernst, ich bin mir da nicht so sicher. Wir wissen nicht, welche Rolle Märchen und andere Geschichten in Hans’ Leben

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