So finster, so kalt
hast. Danach werde ich darüber nachdenken. Allerdings nur, wenn du nackt putzt.«
Eine Sekunde starrten sie sich an, dann lachten sie gleichzeitig los. Jakob sprang vom Hocker und fuhr sich über die dunklen Bartstoppeln. »Soso. Dann sollte ich mich duschen und rasieren.«
»Stimmt.«
Immer noch lachend winkte er ab und flüchtete aus der Küche. Merle griff in die Obstschale und schnupperte an einem der Äpfel, die Björn ihr im Auftrag seiner Tochter mitgegeben hatte. Ja, sie war Einzelkind, aber sie war wie mit einem Bruder aufgewachsen und hatte nie das Gefühl gehabt, dass ihr etwas fehlte. Auch wenn sie und Björn einander nur am Wochenende gesehen hatten, war er der wichtigste Spielgefährte ihrer Kindheit gewesen. Jetzt stand sie im Begriff, eine Wochenendbeziehung zu beginnen. Jakob hatte es gerade durchblicken lassen, und sie hatte im Stillen aus vollem Herzen zugestimmt. Vielleicht war das ihr Schicksal, nur einen Teil ihres Lebens mit den Menschen verbringen zu können, die ihr am wichtigsten waren. Zumindest, solange Jakob nicht Ernst machte und kündigte. Der Gedanke, wie wenig sie dagegen einzuwenden hätte, überraschte sie selbst. Hatte sie es nicht langsam angehen wollen?
Versonnen biss Merle in den Apfel und hing ihren Kindheitserinnerungen nach, während sie Jakob auf dem Weg ins Bad pfeifen hörte.
Björn hatte Omis Häuschen genauso gut gekannt, wenn nicht sogar noch besser als sie. Schließlich hatte er Oma Mago, wie er sie nannte, auch in der Woche besucht. Manchmal hatte sie Merle davon erzählt – und davon, was für ein lieber und vor allem aufmerksamer Junge er doch war.
Einmal, nachdem sie mit selbstgebastelten Pfeilen und Bögen erfolgreich die bösen Männer irgendeines Königs vertrieben hatten, hatte Omi vorgeschlagen, Lebkuchen zu backen. Mitten in den Sommerferien hatte Merle natürlich protestiert, aber Omi hatte nur gelacht und erklärt, dass man doch essen könne, was und wann man es wolle. Es war eine sehr frühe Lektion über Toleranz, wobei Merle später beim Backen vermutet hatte, dass Omi vielmehr einen Anlass gesucht hatte, über das Rezept und die lange Familientradition zu sprechen. Angeblich war es von ihrem ältesten bekannten Vorfahren seit Jahrhunderten bis heute weitergereicht worden.
Merle verspürte einen Kloß im Hals. Das Apfelstück in ihrem Mund schmeckte auf einmal bitter. Das Rezept hatte sich nicht bei den Unterlagen befunden, die sie und ihr Vater mitgenommen hatten. Warum auch? Omi hatte es immer aus dem Kopf heraus gebacken, und ihre dumme Enkelin hatte es sich nie aufgeschrieben. Jetzt war es verloren. Für immer in den Tiefen des Geschehenen vergessen.
Sie nagte die Reste des Apfels ab und warf das Gehäuse in den Biomüll.
Kurz darauf kam Jakob in die Küche zurück. Der Geruch von Männerduschgel begleitete ihn.
Merle musste würgen und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte er verdattert.
Sie winkte hastig ab. »Nichts, ich hatte nur gerade die verrückte Idee, ob der Apfel vielleicht vergiftet ist. Blödsinn, oder? Ich glaube, bei Schlafmangel ist man irgendwann nicht mehr ganz klar im Kopf.«
»Na, jetzt hör aber auf. Wer sollte dich denn vergiften wollen? Du bist doch nicht Schneewittchen.« Jakob lachte auf, und es klang etwas befremdet, was Merle ihm nicht verübeln konnte. Märchenexperte hin oder her, vermutlich nervte ihn die ganze Sache längst.
Sie grinste zaghaft. »War nur so dahingesagt. Allerdings hab ich mit Omis Äpfeln tatsächlich mal ziemliche Probleme bekommen. Da war ich knapp elf Jahre alt. Ich weiß das so genau, weil es die ersten Herbstferien waren, in denen ich auf dem Gymnasium war. Ich hatte Omi von meinen Lateinvokabeln erzählt. Björn war auch dabei. Wir wollten Apfelkuchen backen und durften die Äpfel nicht naschen. Haben wir natürlich doch getan.«
»Was ist dann passiert?«
»Es musste schnell und heimlich gehen, und da ist mir vor lauter Hektik eine ganze Spalte im Hals stecken geblieben. Omi hat mich gepackt und auf den Kopf gestellt, während Björn mir auf den Rücken schlagen musste, als wäre ich ein staubiger Teppich. Hat aber funktioniert.«
Jakob nickte. Er wirkte erleichtert. Vermutlich, weil sie ihm jetzt nicht irgendein Märchen über eine angebliche Apfelvergiftung erzählt hatte. Einen winzigen Moment glaubte Merle, einen Stich in der Magengegend zu verspüren, doch es ging vorbei.
»Was nun? Soll ich dir zeigen, was ich bisher gefunden
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