So finster, so kalt
presste sie an ihre Brust. Der Druck der Hand verstärkte sich sanft, aber bestimmt.
Bernsteinaugen blitzten unter den Bäumen auf. Der Wolf tauchte vor ihr auf. Er sprang.
Danach sank sie in einen traumlosen Schlaf.
*
»Das waren die Nachrichten. Es ist zehn Uhr vier. Die Wetteraussichten für heute, Samstag, den 21 . September: Nach anfänglichem Sonnenschein …«
Merle konnte den Anblick kaum ertragen. Jakob saß an der erhöhten Küchentheke, die eine Hand, wie um sich festzuhalten, um die Kaffeetasse gelegt. Mit der anderen Hand hielt er sich den verstrubbelten Kopf, als hätte er Kopfschmerzen. Dunkle Augenringe und der dichte Bartschatten, in den sich deutlich sichtbar an einigen Stellen bereits Silbergrau mischte, gaben ihm eine düstere Aura. Wie am Abend zuvor trug er nur das T-Shirt und die Unterhose, doch an diesem Morgen hatte der Anblick nichts Erotisches an sich.
Sie zupfte ihren Rollkragenpulli zurecht und setzte sich. Seit halb sechs war sie auf den Beinen, geisterte durch die Wohnung, sortierte ein paar Unterlagen für den Steuerberater oder saß auf der Couch und döste vor sich hin, wobei sie sorgsam darauf bedacht war, bloß nicht einzuschlafen. Noch dreimal hatte sie sich und Jakob aus dem Schlaf geschrien. Das war Rekord, und danach fühlte es sich auch an.
Wenigstens hatte sie die Zeit genutzt, alles für ein gutes Frühstück einzukaufen. Frische Brötchen und Croissants, Wurst und Käse, Marmeladen und frischer Orangensaft standen auf der Theke. Die Sonne schien durch die große Fensterfront, und das Radio summte im Hintergrund. Eigentlich war es ein schöner Tag. Trotzdem war Merle nach Heulen zumute.
»Das ist schlimmer, als die Nacht durchzumachen, ehrlich«, stöhnte Jakob. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger durch die Augen.
Schuldbewusst vermied sie es, ihn anzusehen, und nahm sich stattdessen ein Croissant, das sie dick mit Butter und Honig beschmierte. »Hast du wenigstens noch ein bisschen schlafen können?«
»So gut, wie man eben morgens schläft. Was ist mir dir, wie geht es dir?«
»Gut.«
Ungläubig zog er die Augenbrauen hoch und lächelte schief. »Das nehme ich dir nicht ab.«
»Alles in Ordnung. Ich bin müde, aber okay.« Betont gleichmütig biss sie in ihr Croissant.
Er musterte sie gründlich, während er eine Scheibe rohen Schinkens zusammenrollte, um sie sich in den Mund zu schieben. Merle dachte an das Blut am Maul des Wolfes in ihrem Traum. Sie schauderte kurz und zog ungewollt die Schultern zusammen.
Jakob entging es nicht. »Der Prozess hat dich viel mehr mitgenommen, als du dir selbst eingestehen willst.«
»Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Die moralischen Aspekte haben mich mitgenommen.«
»Spar dir deine Wortklaubereien. Das läuft auf das Gleiche hinaus.« Zum ersten Mal erlebte Merle, dass Jakob latent aggressiv klang.
Sie spielte unsicher mit einer Hand an ihrem Ohrring. Am Morgen hatte sie einen Blick in den Spiegel gewagt und gleich eine Selbstdiagnose parat gehabt: Sie sah aus wie ein Kaninchen auf Drogen. »Tut mir leid. In den letzten Tagen habe ich viel darüber nachgedacht, ob diese Arbeit überhaupt noch das Richtige für mich ist.« Jetzt war es heraus.
Jakob drehte sich halb um und schloss mit einer Handbewegung die Hochglanzlackfronten samt ihren Gerätschaften mit ein. »Sie scheint einträglich zu sein. Du bist der erste Mensch, den ich kenne, der einen eingebauten Dampfgarer in der Küche hat.«
Merle lachte. »Der war im Gesamtpaket dabei, den braucht wirklich niemand.« Sie wurde ernst. »Aber genau darum geht es. Geld ist nicht alles. Ich sehe keinen Sinn mehr in dem, was ich mache. Aber erst mal muss ich diese Schlafprobleme in den Griff bekommen. Ich kann kaum noch über etwas anderes nachdenken.«
»Sprich doch mit deinem Hausarzt, damit der dir ein Schlafmittel verschreibt. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen, aber da sollte man doch was machen können.«
Merle schüttelte den Kopf. »Das habe ich schon. Die Tabletten liegen dort drüben. Aber es widerstrebt mir, sie zu nehmen. Das wird schon wieder. Ich habe eher dir gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich dich dauernd wach gemacht habe.«
»Lass mal. Beim ersten Mal bin ich von dem Martinshorn wach geworden, und danach hätte ich so oder so nicht mehr gut geschlafen.«
»Was für ein Martinshorn?«
Jakob warf ihr einen verblüfften Blick zu, während er endlich in den Brotkorb griff und sich ein Brötchen mit Schinken belegte. »Heute Nacht
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