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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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mehr benutzt. Mago hatte seit dem Auszug ihres Vaters allein hier gelebt.
    Merle wandte sich dem Bett zu und griff nach dem bunten Patchwork-Überwurf. Eine Staubwolke wirbelte auf und ließ kleine Punkte durch die Luft tanzen. Hier hatte jedenfalls lange niemand mehr sauber gemacht.
    Sie legte gerade ihre Tasche auf das Bett, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Mit wenigen Sätzen lief sie die Treppe hinunter und stand kurz darauf Björn gegenüber, der eine orangefarbene Warnweste trug und eine Taschenlampe in der Hand hielt. Merle erschrak. Erst Björns aschfahles Gesicht mit den tiefen Falten um die Augen ließen sie endgültig realisieren, was mit Ronja passiert war. Wortlos umarmte sie ihn, und er klammerte sich einen Moment an sie, ehe er sich abwandte und sich in der Stube an den Esstisch setzte.
    Merle folgte ihm. Ohne zu fragen, stellte sie ihm ein Glas Wasser vor die Nase und begann, das mitgebrachte Essen – Brot, Käse, Schinken und Tomaten – auszupacken und anzurichten. Sie erwartete nicht, dass Björn etwas davon anrührte, doch sie selbst hatte seit dem Aufbruch in Hamburg nur ein Sandwich zu sich genommen. Also aß sie schweigend, während er lustlos an einem Kanten Brot herumkaute und erzählte.
    »Ronja ist nach dem Abendessen noch mal raus. Das erlauben wir ihr sonst nicht, aber Amelie wollte ihr irgendetwas zeigen, da haben wir eine Ausnahme gemacht. Amelies Bruder Luke, also Lukas, war schon seit dem frühen Nachmittag verschwunden. Seine Eltern haben sich aber erst Gedanken gemacht, als er um sechs Uhr nicht zu Hause war. Sie sind ins Dorf gegangen, um die Nachbarn zu fragen, während die Mädchen hierher wollten, weil sie hier viel mit Luke gespielt haben. Ich glaube, davon hat Ronja dir auf der Beerdigung erzählt, oder?
    Das Ehepaar Armbruster – das ist der Förster, seine Frau ist Grundschullehrerin – hat Ronja und Amelie auf ihrem Abendspaziergang noch am Steinbruch getroffen. Die Mädchen haben nach Luke gefragt, aber die Armbrusters konnten ihnen nichts sagen. Jedenfalls sind Amelie und Ronja seitdem ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt.« Björns Stimme klang leise und sachlich, doch Merle konnte sich kaum erinnern, ihn zuvor je ohne seinen humorvollen Unterton sprechen gehört zu haben. Auch seine fahrigen Bewegungen verrieten seine Besorgnis. Er wippte mit dem Fuß, als müsse er jeden Moment aufspringen, und stürzte das Wasser in einem Zug hinunter.
    »Um zehn Uhr haben wir die Polizei verständigt. Die haben natürlich sofort reagiert. Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass sie die Angelegenheit noch nicht ganz ernst genommen haben. Sie meinten, dass die Kinder sicher wegen irgendwas die Zeit vergessen hätten und sich jetzt nicht nach Hause trauen würden, weil sie Strafen befürchteten. Kannst du dir das vorstellen, dass ich meine Kinder bestrafe? Auch über Lukes und Amelies Eltern kann man sagen, was man will – das würden sie nie tun. Nicole war immer ein bisschen überbesorgt. Luke war als Kind schon mal verschwunden, war auf einer Baustelle in einen Keller gerutscht und nicht wieder herausgekommen. Die Bauarbeiter haben ihn am nächsten Morgen entdeckt.« Er seufzte. »Ich gebe das nicht gern zu, aber seit heute verstehe ich sie irgendwie besser. Ich denke trotzdem, dass es genau so etwas ist: Sie sind sicher irgendwo im Wald und hängen fest oder kommen aus einer Erdspalte nicht mehr heraus oder so etwas. Es wird sie kaum die Wilde Frau geholt haben.« Er lachte, und es klang etwas wahnsinnig.
    Merle fand, dass das Brot plötzlich trocken schmeckte. Sie würgte den letzten Bissen hinunter und schwieg, weil sie einfach nicht wusste, was sie sagen sollte.
    Björn rieb sich mit dem Daumen über den Nasenrücken, ehe er fortfuhr: »Seit heute Morgen hat man die Suche dann etwas ernster genommen. Gestern Mittag hatte es geregnet, so dass man hier am Haus die Spuren der beiden Mädchen ganz gut verfolgen konnte. Außerdem haben die Leute von der Polizei angebissenen Lebkuchen gefunden. Ich war dabei. Ein paar Stücke waren mit Zuckerguss verziert und sahen aus wie die Männlein, die deine Oma immer gebacken hat. Ich hatte den Eindruck, dass jemand eine Spur legen wollte. Wie bei
Hänsel und Gretel,
weißt du?«
    »Meinst du, jemand hat eine Spur gelegt, um die Mädchen irgendwohin zu locken? Oder die Mädchen haben die Spur gestreut, als sie entführt wurden?«
    Unerwartet fuhr Björn auf. »Spielt das irgendeine Rolle?«
    »Vielleicht nicht. Aber wenn jemand

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