So finster, so kalt
ein paar Tagen wieder zurückfliegen zu können. Das Wohnmobil hatte er auch noch nicht gekündigt, aus demselben Grund. Zum Zeitpunkt von Merles Anruf war erst knapp die Hälfte seines geplanten Aufenthalts verstrichen gewesen, und er hatte sich so sehr auf diese Reise gefreut. Jetzt wollte er erst einmal in Steinberg nach dem Rechten sehen und sich selbst ein Bild machen. Vielleicht war alles nicht so schlimm, wie es zurzeit aussah. Womöglich waren die Kinder inzwischen sogar wieder wohlbehalten bei ihren Eltern, und die ganze Aufregung hatte sich gelegt. Merle hatte ihm gesagt, sie selbst hätte drei Wochen Urlaub. Wenn er es schaffte, sie zu überreden, noch einmal die gleiche Zeit dranzuhängen, würde er doch noch ein paar dicke Lachse aus den kanadischen Flüssen fangen können. Er war sich sicher, dass seine Tochter ihm diese Bitte nicht abschlagen würde, wenn es sich mit ihrem Beruf vereinbaren ließe.
Theodor setzte sich in den Wagen und stellte Sitz und Rückspiegel richtig ein. Wenigstens gehörte Merles Beziehung mit diesem widerlichen Michael endlich der Vergangenheit an. Das wenige, was sie über ihre neue Bekanntschaft erzählt hatte, klang so freundlich. Wenn dieser Wolff nur halb so nett war, wie es den Anschein machte, würde seine Tochter vielleicht doch noch ihren Frieden finden. Er lächelte still in sich hinein, während er den Wagen startete. Woran lag es, dass Merle bisher immer an die Falschen geraten war? Na ja, es ging ihn nichts an. Heimlich wünschte er sich natürlich schon, noch Großvater zu werden, obwohl es inzwischen nicht mehr danach aussah. Aber über eine Enkelin wie Ronja würde er sich freuen. Sehr sogar. Ronja … Die Kleine würde wieder auftauchen. Es konnte, es durfte nicht anders sein.
Einem Impuls folgend, schaltete er das Radio ein und stellte fest, dass er die Zwanziguhrnachrichten gerade verpasst hatte. Mit Bedauern verwarf er seinen Plan, heute noch einzukaufen und nach seiner Ankunft zu Merle zu gehen. Bis er zu Hause war, war es mindestens elf Uhr. Da er seine Tochter ohnehin nicht persönlich erreichen konnte, würde er gleich eine kurze Nachricht aufs Band sprechen. Sie konnten sich morgen immer noch sehen. Damit, dass sie in seiner Wohnung auf ihn wartete, rechnete er nicht. Schließlich wusste er, wie schwer es einem fallen konnte, das Häuschen zu verlassen, sobald man einmal dort war.
Die Fahrt verlief ereignislos. Von den verschwundenen Kindern war in den Nachrichten nicht mehr die Rede, was alles und nichts bedeuten konnte. Doch Theodor bekam trotz aller widrigen Umstände gute Laune. Er liebte seine Heimat und war selbst erstaunt, wie sehr es ihn berührte, die Höhenzüge des Schwarzwaldes wiederzusehen. Sein Gedanke, für immer nach Kanada auszuwandern und dort seinen Lebensabend zu genießen, löste sich in nichts auf.
Einem spontanen Einfall folgend, bog er ungefähr acht Kilometer vor Steinberg von der Bundesstraße ab, um über das Kleine Wiesental zu fahren. Es war nur ein kurzer Umweg, doch die Nacht war so schön, dass er hoffte, ein paar weitere Eindrücke von der Landschaft zu erhaschen. Der Vollmond schien ungewöhnlich hell für diese Jahreszeit. Er musste lediglich auf möglichen Wildwechsel aufpassen, aber das sollte kein Problem sein. Leise pfiff er die Melodie eines Instrumentalstückes im Radio mit, dessen Name ihm partout nicht einfiel. Es war eine uralte Sequenz aus den Tagen, als Merle noch ein kleines Kind gewesen war. War es nicht sogar eine Filmmelodie?
Er war so in Gedanken versunken, dass er um ein Haar das Reh übersehen hätte, das nur wenige Meter vor seiner Kühlerhaube die Straße überquerte. Mit einem leisen Fluch trat Theodor auf die Bremse. Der Wagen schlingerte ruckelnd über den Asphalt und brach dann trotz ABS zur Seite aus. Reflexartig riss Theodor das Lenkrad herum. Er drehte sich einmal um sich selbst, bevor er ein letztes Mal in den Sitz gedrückt wurde und zum Stehen kam. Wie hieß es doch? Übermut tut selten gut. Er atmete mehrmals tief durch und lockerte den blockierten Gurt. Dann legte er einen Gang ein und wollte gerade weiterfahren, als er das Mädchen sah.
Theodor blinzelte.
Das Kind wirkte völlig fehl am Platze. Es war ungefähr acht oder neun Jahre alt. War das etwa Amelie? Theodor kannte sie nicht so gut wie Ronja und hatte sie länger nicht gesehen. Seltsam war jedenfalls die Kleidung des Kindes: ein weißes, fast durchscheinendes Kleid. Es sah mehr wie ein Nachthemd aus.
Bisher hatte die
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