So finster, so kalt
die Luke und verließ die Scheune. Auf der Lichtung hielt sie inne und ließ den Strahl ihrer Taschenlampe bis zum Waldrand wandern. Die Nacht war vollkommen friedlich. Eine rot-weiß gescheckte Katze strich durch das Gras. Vermutlich tierische Mitbewohnerin Nummer drei. Dann und wann schüttelte sie die nassen Pfoten, und einzelne Wassertropfen spritzten wie winzige Leuchtkugeln davon.
Dann stellten sich Merle unvermittelt die Nackenhaare auf. Die Katze war stehen geblieben, und ihr Kopf wanderte von den nahen Bäumen zu Merle und wieder zurück.
Merle leuchtete zum Waldrand. Bewegte sich dort unter den Bäumen etwas? Egal, sie würde den Teufel tun und mitten in der Nacht nachsehen! Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie ein Kreischen hörte. Es klang wie das Kratzen eines Fingernagels über eine Glasscheibe. Merle überlief eine Gänsehaut – und gleichzeitig fauchte die Katze auf. Ihr Fell stand zu allen Seiten, und ihr gesträubter Schwanz peitschte aggressiv hin und her. Im nächsten Moment sprang sie mit einem Riesensatz durch das Gras, kam auf dem Steinweg vor dem Haus kurz ins Schlittern und rannte um die Hausecke davon.
Wieder glitt der Lichtstrahl der Taschenlampe über die Bäume. Nichts rührte sich. Kein Laut mehr, keine Bewegung. Alles friedlich.
Kopfschüttelnd fragte Merle sich, was mit ihr los war. Es erleichterte sie, dass auch die Katze etwas bemerkt hatte. Mehrmals atmete sie tief durch, versuchte sich zu beruhigen und nahm sich vor, sich zurück in Hamburg nach einem Entspannungstraining oder etwas in der Art umzusehen. Gleichzeitig stieg Wut in ihr auf. Das Gekreische war vermutlich der Schrei eines Nachtvogels gewesen. Es konnte doch nicht sein, dass so ein Kleinkram sie ständig dazu brachte, die Nerven verlieren!
Sie ging ins Haus und knallte die Tür mit mehr Wucht als nötig hinter sich zu. »Wenn ich Gespenster sehe, dann für Katzen sichtbare. Immerhin!«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
In der Stube ließ sie sich auf die Couch sinken und starrte auf den Schaukelstuhl und die Esse dahinter. Fast sah sie Björn lächelnd dasitzen. Nachdem sie sich mit den Fingerspitzen durch die Augen gerieben hatte, verschwand das Trugbild. Morgen würde sie weiter nach dem Rezept suchen. Omi hatte sicher vorgesorgt. Und wenn sie es vorwärts und rückwärts auswendig gekannt hatte – ganz sicher hatte sie es trotzdem aufgeschrieben.
Haus im Wald – Steinberg, Herbst 1615
Johann! Komm her! Rosalia braucht ihr Holz heute noch!«
»Ich komme, Mutter!«
Hans richtete sich auf, legte das Beil ab, mit dem er die dickeren Äste von den kleineren befreit hatte, und wandte sich um. Agnes stand in der Tür des Hauses und winkte Johann heran, der wie ein hastiges Rehkitz über die Wiese sprang. Voller Stolz beobachtete Hans seinen Sohn, wie er sich von seiner Stiefmutter die mit getrocknetem Brennholz gefüllte Kiepe auf den Rücken schnallen ließ, um dann mit vorgereckter Brust und weiten Armbewegungen in Richtung Dorf zu marschieren.
Seit Jahren schon hatte Hans seine Schulden bei der alten Hebamme abgetragen. Doch er hatte nie damit aufgehört, Rosalia regelmäßig umsonst mit Brennholz zu beliefern. Nach einigem Protest hatte sie es stillschweigend hingenommen und revanchierte sich ab und zu mit selbstgemachtem Hustensirup oder Kräutertee. Und sie freute sich, wenn Hans seinen Sohn schickte. Denn so konnte sie sich mit eigenen Augen überzeugen, was aus dem winzigen blutverschmierten Häufchen mit der Nabelschnur geworden war. Hans lächelte. Ja, Johann hatte es allen gezeigt. Allen Unkenrufen zum Trotz hatte er überlebt und sich prächtig entwickelt. Das hatte er ein Stück weit Agnes zu verdanken, die ihn vom ersten Tag an geliebt und umsorgt hatte, als wäre er ihr eigener Sohn.
Weitere sechs Jahre hatten seit Johanns Geburt vergehen müssen, bis Hans endlich sein Versprechen einlösen und Agnes hatte heiraten können. Er hatte geschuftet wie ein Ochse, um seine Steuerschulden abzutragen, und es war ihm gelungen. Denn dieses Mal hatte er gewusst, dass er es für sich und die Zukunft seiner Familie tat und nicht, um den Teufel gnädig zu stimmen.
Den Teufel …
Je mehr Jahre vergingen, umso unwirklicher wurden ihm die Ereignisse jener Tage mit Greta. Sie war seit ihrem Verschwinden in jener Nacht nie wieder aufgetaucht, und Hans hatte bis heute weder Gerüchte aufgeschnappt noch bei seiner Arbeit im Wald irgendeine Spur entdeckt, die ihm einen Hinweis auf
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