So finster, so kalt
an.
Sie wandte sich wieder dem Raum zu, und jäh stürmten Bilder aus der Vergangenheit auf sie ein: ihre Omi am Bücherregal mit einem Märchenbuch in Händen. Björn mit einer Tonpfeife, Omis Lesebrille und einem ledergebundenen Buch im Schaukelstuhl. Merle selbst am Tisch mit einem Spritzbeutel beim Verzieren der Lebkuchenmännlein. Das letzte Weihnachten mit ihrer Mutter, als noch niemand etwas von ihrer Krankheit geahnt hatte. Eine gerade eingeschulte Merle, die stolz ein Gedicht vorträgt, während hinter ihr in der Esse das Feuer prasselt, das zur Feier des Abends angezündet worden ist.
Argwöhnisch schnüffelte Merle. Sie glaubte plötzlich den Geruch des verbrennenden Holzes in der Nase zu haben. Feuer in einem Holzhaus war so ungefähr das Letzte, was sie jetzt noch erleben wollte. Hastig sah sie sich um. Die Öllampe stand unschuldig glimmend vor ihr. Nirgendwo erhob sich ein verräterisches Knistern oder war ein rötlicher Feuerschein auszumachen.
Merle lief in den Flur. Die Lampe dort war ausgegangen.
Im Dunkeln hastete sie die Treppe hinauf, riss alle Türen auf. Nichts. Hier oben roch sie nichts.
Sie machte einen kurzen Umweg zu ihrer Reisetasche, griff nach einer der Taschenlampen, lief die Treppe wieder hinunter und hinaus zum hinteren Teil des Hauses. Draußen roch es ganz unschuldig nach feuchtem Boden, modrigem Holz und gemähtem Gras. So wie es sich für den Herbst gehörte.
Merle verlangsamte ihre Schritte. Die Kontrolle der Scheune war nur noch Formsache. Sie hatte sich das alles eingebildet. Wieder einmal. Wie oft durfte man eigentlich solche Wahrnehmungsstörungen und Verfolgungsideen haben, bevor man sicher sein konnte, dass man komplett durchdrehte?
Im Inneren der Scheune war ebenfalls alles, wie es sein sollte. Das Licht der Taschenlampe huschte über mehrere mit Latten abgeteilte Boxen, in denen bis zur Decke Brennholz zum Trocknen lagerte. Soweit Merle wusste, schlugen einige Familien aus dem Dorf ihr Holz auf den Parzellen der Hänsslers und lagerten es hier ein.
Dann fiel Merle das Versteck für die Lebkuchenmännlein ein. Ob Omi immer noch welche dort hineinlegte? Früher hatte sie gesagt, dass es für ihre Ahnen wäre, aber mit der Zeit hatte Merle herausgefunden, dass ein paar Kinder – einschließlich ihr selbst – die Erlaubnis besaßen, sich aus dem Versteck zu bedienen. Natürlich wurden alle zu absolutem Stillschweigen verdonnert, und so reduzierte sich der Vorrat immer wieder auf geheimnisvolle Weise, so dass manche tatsächlich an Geister glaubten. Zumindest Merle hatte das für eine Weile getan.
Sie ging zu der versteckten Nische, hockte sich hin, griff, nachdem sie einmal hineingeleuchtet hatte, hinein und zog eine runde Metalldose hervor. Sie war leer, doch ein paar frische Krümel klebten am Boden. Die Tradition hatte also noch eine kleine Weile fortbestanden.
Merle verbot sich alle wehmütigen Gedanken, stellte die Dose zurück und erhob sich. Ihr war eingefallen, dass ihr Vater einen Dachboden in der Scheune erwähnt hatte, und jetzt fiel ihr die Klappleiter auf, die in der gegenüberliegenden Ecke unter einer Luke aufgestellt war. Merle konnte sich nicht erinnern, jemals dort oben gewesen zu sein. Wenn sie genauer nachdachte, war sie nicht einmal sicher, ob sie von dem Dachboden gewusst hatte. Als Kind hätte sie sonst sicherlich liebend gern dort herumgestöbert. Sonderbar. Ein Dachboden, und sie hatte ihn nie gefunden? Neugierig griff sie nach den Sprossen, stieg Schritt für Schritt die Leiter empor und versuchte vergebens, die Luke zu öffnen. Schließlich stemmte sie sich mehrmals mit der Schulter dagegen, bis das Holz knirschend nachgab. Mit einer letzten Anstrengung drückte sie die Luke nach oben, die mit einem dumpfen Knall aufschlug. Staubflocken und kleine braune Brocken rieselten auf sie herab.
»Igitt, was ist das denn?«, rief Merle und wischte sich den Schmutz von Schultern und Haaren. Vermutlich Mäusedreck. Sie kletterte die letzten Sprossen hinauf. Der Strahl ihrer Taschenlampe huschte durch den Raum, als sie an der Luke stehen blieb, um sich zu orientieren.
»Ich frage mich, wann hier das letzte Mal jemand oben war«, murmelte sie bei sich.
Sie beugte sich zu einem Stapel Papier hinab und wischte den Staub beiseite. Es waren alte Versandhauskataloge. Ein Teil war angefressen und offensichtlich von eifrigen Nagern für den Nestbau verwendet worden, doch die meisten waren noch unversehrt. Sie nahm einen von ihnen und blätterte darin:
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