So finster, so kalt
»Frühjahr/Sommer 1982« . Da sie hier direkt an der Luke lagen, nahm sie an, dass sie das Letzte gewesen waren, was hier heraufgeschafft worden war.
Merle drehte sich um. Ihre Lampe erfasste einen Haufen Holzstreben und Schnüre. »Was ist das?«
Dann erkannte sie es. Ein Hauswebstuhl. Omi hatte ihn nach dem Krieg noch benutzt, um ein paar Tücher und Ähnliches herzustellen, für den Eigenbedarf oder um sie zu verkaufen. Ihr Vater hatte als Junge manche Stunde daran sitzen müssen. Merle ließ weitere Staubwolken aufwirbeln, indem sie versonnen an den Schnüren zupfte. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass jemand dieses Chaos jemals wieder zu einem funktionierenden Gerät zusammensetzen konnte.
Langsam ging sie tiefer in den Raum hinein, während der Schein ihrer Taschenlampe über Kisten und Hausrat glitt. Wie aufregend es gewesen wäre, als Kind hier zu spielen und in den alten Sachen zu wühlen …
Der Dachboden folgte dem Grundriss des Hauses, einem langgestreckten Rechteck. Merle war an der rückwärtigen Wand angelangt. Sie müsste nun über ihrem Zimmer oder der danebenliegenden Abstellkammer stehen.
Dann entdeckte sie hinter einer Kiste mit alten Schulsachen einen Koffer. Es war ein abgeschabtes braunes Ding aus Pappe oder Plastik mit Metallbeschlägen an den Ecken, wie er in den Fünfzigern üblich gewesen war. Auf einem welligen Aufkleber an der Seite war nur noch eine Nummer erkennbar. Merle kniete sich davor und wischte den Staub von den angerosteten Schlössern. Sie klemmten ein wenig, als sie die Scharniere bewegte, aber dann klickten sie auf.
»Du meine Güte, was ist das denn alles?« Papierbündel rutschten aus der Öffnung, sobald Merle den Deckel anhob – wie kleine Tiere, die froh waren, endlich ihrem zu engen Käfig entkommen zu sein. Ganz offensichtlich hatte jemand den Inhalt ziemlich gequetscht.
Merle begann, in den Blättern zu wühlen. Erst nach einer Weile begriff sie, dass sie nach dem Lebkuchenrezept suchte.
Der Inhalt des Koffers musste Mago einmal sehr wichtig gewesen sein, selbst wenn er hier am Ende des Dachbodens lagerte. Manche Unterlagen steckten in alten Klarsichthüllen, die inzwischen gelb und bröckelig geworden waren. Andere waren mit zum Teil angerosteten Büroklammern zusammengeheftet. Die meisten Texte hatte Omi mit der Hand geschrieben. Merle entdeckte auch fremde Handschriften und Bögen, die mit Schreibmaschine getippt worden waren. Außerdem alte Schulhefte, die die Titel verschiedener Märchen trugen:
Rotkäppchen,
Der Wolf und die sieben Geißlein,
Die Goldmarie,
aber vor allem und immer wieder
Hänsel und Gretel.
Dann hielt Merle Magos Arier-Nachweis in der Hand. Das Dokument, mit dem sie im Zweiten Weltkrieg nachweisen musste, dass sie nicht jüdischer Abstammung war. Es folgten weitere zum Teil offizielle Urkunden, beglaubigte Abschriften aus Taufregistern und ein altes Familienstammbuch aus dem Jahr 1894 . Zum Schluss fand sie eine lange Liste mit Namen, Geburts- und Sterbedaten von unzähligen Hänsslers seit dem siebzehnten Jahrhundert. Die Namen derjenigen, die in Steinberg verstorben waren, waren markiert. Am Anfang waren alle ihrer Familie hier gestorben; später, vor allem ab dem zwanzigsten Jahrhundert, wurden es weniger.
Merle schüttelte ungläubig den Kopf. Der Koffer enthielt Magos gesamte Leidenschaft, ihre Familie und ihre Geschichte sowie – gleichwertig daneben – die Märchen inklusive einiger Unterlagen zu ethnologischen oder literaturwissenschaftlichen Betrachtungen der Märchenthemen. Jakob musste sich den Inhalt unbedingt ansehen. Der Umschlag mit der Professor-Rübezahl-Analyse, den sie ihm gezeigt hatte, war nur die Spitze eines Eisbergs gewesen.
Der Gedanke an Jakob versetzte Merle einen Stich. In den letzten Stunden hatte sie kaum an ihn gedacht, ganz im Gegensatz zu den letzten zwei Tagen, nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten. Sie wollte ihm vertrauen. Er hatte ihr nichts getan!
Unwirsch stopfte Merle die Unterlagen zurück in den Koffer und versuchte gar nicht erst, den Deckel zu schließen. Darum würde sie sich später kümmern. Sie wollte das Rezept, ihren Vater und Jakob. Eigentlich auch Omi, aber das war unmöglich. Jakob würde ihrem Vater gefallen. Sie wusste, dass die beiden sich gut verstehen würden. Die Sache beim Besuch bei Volker war einfach unglücklich verlaufen. Der Rest war ihre eigene Paranoia.
Entschlossen stand sie auf, kletterte ohne Schwierigkeiten wieder auf die Leiter, schloss
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