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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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Johann hatte ihnen beiden noch nie einen Anlass gegeben, ihn zu züchtigen. Natürlich war er manchmal ein Lausbub und heckte kleine Streiche aus, doch er schlug niemals über die Stränge, und er handelte nie arglistig.
    Johann lag still, doch seine Haut blieb kühl und ohne Fieber. Hans wachte neben ihm und betete wider jede Vernunft, denn er war sicher, dass Gott ihn längst verlassen hatte. Doch es ging nicht um ihn, versuchte er seinem Schöpfer wortlos klarzumachen, sondern um ein unschuldiges Kind. Er würde sein Leben für diesen Jungen geben. Wenn das der Preis war, er zahlte ihn gern.
    Die Zeit verrann zäh wie Zuckersirup. Hans erhob sich nur, um die Glut in der Esse wieder zum Glühen zu bringen. Er nutzte einen Stock, der irgendwo im Raum herumgelegen hatte. Der Schürhaken war draußen im Gras zurückgeblieben. Während Hans herumstocherte, starrte er auf die Holzvertäfelung neben der Esse. Das Bild mit dem Baum hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert. Je nachdem, wie das Licht auf das Holz fiel und manche Linien in den Schatten legte, trug das Gesicht im Stamm des Baumes einen anderen Ausdruck. Manchmal glaubte Hans, dass es eine Botschaft der Frau wäre, die hier einst gelebt hatte. Dass sie ihm etwas mitteilen wollte. Doch falls dem so war, verstand er ihre Nachricht nicht.
    Der Morgen brach herein und folgte einer lautlosen Nacht. Hans hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ein paarmal war er eingedöst, nur um wieder voller Sorge aufzuschrecken. Johann hatte die ganze Zeit ruhig geschlafen, lediglich seine Augenlider flatterten hin und wieder.
    »Hans.« Plötzlich stand Agnes hinter ihm. »Was ist geschehen?«
    Er schüttelte nur stumm den Kopf. Sie würde es nicht verstehen. Als er sich umsah und erkannte, dass sie es wieder nicht wagte, sich ihm zu nähern, erhob er sich und bedeutete ihr mit einer stummen Geste, dass sie nach ihrem Sohn schauen sollte. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, kniete sich dann nieder, fühlte Johanns Wangen und drückte seine kleine Hand. Der Junge schlief friedlich.
    Der Anblick seines schlafenden Sohnes unter dem Bild des Baumes mit dem Gesicht brachte Hans endlich auf eine Idee. »Agnes, kannst du über ihn wachen? Ich muss zu Rosalia.«
    »Für den Jungen?«
    »Auch.«
    »Hans.« Agnes sah auf. Hans konnte Tränen in ihren Augen glitzern sehen. »Ich werde dich verlassen.«
    Manchmal sagte jemand Worte, auf die es keine richtige Antwort gab. Hans nickte stumm. Es schmerzte ihn, doch er hatte es gewusst. Er war weder taub noch blind. Agnes hatte die ganzen Jahre mit dem Gerede gelebt, zu ihnen gestanden, sein wunderliches Gehabe und sein Schweigen ertragen. Nun mitzuerleben, wie der Wahnsinn des Vaters auf den Sohn übergegangen war, war mehr, als sie aushalten konnte.
    »Bitte warte noch, bis er erwacht. Sonst glaubt er, dass er die Schuld daran trägt.« Selbst wenn es so wäre, würde Agnes das nicht wollen, hoffte er.
    Zu seiner Erleichterung stimmte sie mit einem traurigen Lächeln zu.
    Hans wandte sich ab. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Johann schnell wieder seine rehbraunen Augen öffnete, auch wenn dies hieß, Agnes ziehen zu lassen. Sie hatte sein Leben bereichert. Er wollte das ihrige nicht zerstören.
     
    »Lebe wohl«, flüsterte Hans leise. Agnes hatte sich ein letztes Mal umgedreht und Johann zugewunken, der neben seinem Vater stand und versuchte, sich stark zu geben. Die Wunde an seinem Kopf heilte gut. Doch er war nicht mehr derselbe unbeschwerte Junge wie zuvor.
    Wie der Vater, so der Sohn, hieß es nicht so? Hans legte ihm tröstend den Arm auf die Schulter und drückte ihn an sich. Johann schluchzte verstohlen.
    Vielleicht konnte er seine Stiefmutter eines Tages besuchen. Sie wollte bei Rosalia eine Nachricht hinterlassen, wenn sie eine Anstellung gefunden hatte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
    Hans hatte ihr das halbe Vermögen mitgegeben, ohne ihr Wissen sogar noch etwas mehr. Doch es würde nicht lange reichen. Er hoffte, dass sie dennoch ein einigermaßen gutes Leben würde führen können. Er hatte ihr gesagt, dass er sie jederzeit wieder willkommen heißen würde, falls sie zurückkommen wollte. Tief in seinem Herzen wusste er, dass dieser Tag niemals kommen würde.
    »Komm ins Haus, Johann. Gleich wollen wir die Äpfel ernten.« Sie liebten diese Aufgabe beide, seitdem sie ein Spiel daraus gemacht hatten. Hans hob seinen Sohn in den Baum, und der warf ihm die Äpfel zu. Hans musste alle fangen, so

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