So finster, so kalt
ihn wirklich interessiert, denn Thierenbach besaß eine beeindruckende Sammlung von Votivbildern. Aber noch lieber wollte er sich mit Merles beziehungsweise Hans’ Geschichte beschäftigen, die immer seltsamer wurde und deshalb umso attraktiver. Er fragte sich schon jetzt, was er am Ende alles daraus würde machen können.
*
Zurück in seinem Büro nahm Jakob einen Filzstift und stellte sich vor das Whiteboard. Was hatte er bisher?
Er schrieb »Knusperhäuschen« in Druckbuchstaben an die Tafel. Das Haus war wirklich seltsam. In seiner Erinnerung kam es ihm vor, als hätte er mit der Annäherung an die Hütte im Wald eine andere Welt, oder zumindest eine andere zeitliche Epoche betreten. Bis Ronja und Björn aufgetaucht waren, hatte sich sein Verstand nicht so richtig zur Mitarbeit überzeugen lassen wollen. Als hätten dort im tiefsten Schwarzwald andere Sinne die Kontrolle über sein Denken und Handeln übernommen. Sinne, von denen Jakob zwar wusste, dass er sie besaß, die er jedoch nie so recht hatte wahrhaben wollen. Vielleicht hatte dieser Hans vom Wald etwas ganz Ähnliches erlebt?
Jakob trat an das Board heran und schrieb »Hans« unter »Knusperhäuschen« und verband beide Worte mit einem Pfeil, der auf den Namen zeigte. Direkt daneben schrieb er »Greta« und zog einen Pfeil mit zwei Spitzen zwischen sie und »Hans«. Grübelnd betrachtete er das kleine Schaubild. Dann ergänzte er »Hexe« in Anführungszeichen und verband sie mit Hans und Knusperhäuschen. Unter Hans schrieb er als Stichpunkt »Dokument«.
Eine Vorbesitzerin des Hauses hatte es wirklich gegeben. Jakob hatte auf den Internetseiten des Baden-Württembergischen Landesarchivs entsprechende Vermerke aus alten Katastern gefunden. Der umtriebige Geschichtsverein Steinbergs hatte sogar schon alte Besitzstandsurkunden digitalisiert und veröffentlicht. Der Name der Vorbesitzerin war allerdings nicht zu entziffern gewesen. Das Haus war 1610 von der Gemeinde Steinberg in den Besitz der Hänsslers übergegangen und wurde seitdem von der Familie bewohnt, die mit Hans’ Sohn Johann diesen Familiennamen bekamen. So weit die Fakten.
Der Rest ergab überhaupt keinen Sinn. Jakob schrieb »gefälscht« unter »Dokument« und setzte zwei Ausrufezeichen dahinter. Es ärgerte ihn maßlos. Nicht nur die Tatsache an sich, sondern auch, dass er diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte. Er hatte die gesamte Autofahrt ins Büro darüber nachgedacht und war am Ende überzeugt, dass Bruder Pirmin richtiglag. Nicht nur, weil Jakob ihn als Experten anerkannte, sondern auch, weil es ihm plausibel erschien. Die geschichtlichen Fakten konnte er kaum bestreiten: Das Kloster war weitgehend zerstört gewesen, und es hatten Hunger und Chaos geherrscht. Da hätte niemand Zeit und Muße gehabt, eine derart umfassende Schrift zu verfassen. Selbst wenn zwar das Dokument, nicht aber dessen Inhalt gefälscht wäre – und diesen Punkt konnte er derzeit nicht einschätzen –, würde er erst einmal herausfinden müssen, wer das Dokument wann und zu welchem Zweck angefertigt hatte. Nur so würde er eine weitere inhaltliche Analyse vornehmen können.
Wenn das Original vorläge, könnte man Papier und Tinte untersuchen und wenigstens ungefähr den Entstehungszeitpunkt eingrenzen. Aber so? Am Ende gab es kein Original, sondern nur diese Kopien aus den siebziger Jahren, und Merles Großmutter war die Urheberin. Jakob pfefferte den Filzstift auf den Boden und raufte sich zornig die Haare. So viel Aufwand für nichts. Er hätte es gleich ahnen können. Bei dem derangierten Eindruck, den Merle während ihres ersten Treffens gemacht hatte. Aber er hatte bisher noch immer alle Ziele erreicht, die er sich gesetzt hatte. An Merle würde er nicht scheitern!
Er bückte sich leise schimpfend und hob den Stift wieder auf, um ein Fragezeichen an »Dokument« zu malen. Dann unterstrich er »Greta« mehrmals. Sie war der Schlüssel zu allem. Was aber trieb sie? Wer war sie? Nach einigem Zögern schrieb er »Wilde Frau« neben Greta und zog eine gestrichelte Verbindungslinie. Es war ganz gut gewesen, dass dieser nervige Pfarrer die Sage noch einmal erwähnt hatte. Jakob hätte nie selbst daran gedacht, dabei war sie um Steinberg herum sehr prominent. Wie das bei solchen lokalen Geschichten so üblich war, gab es ein Hotel und ein Restaurant, das nach der Wilden Frau benannt war, sowie mindestens zwei Skulpturen, von denen er wusste. Eine davon stand direkt vor der Kirche
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