So finster, so kalt
Wand rechts neben der Esse angelangt und verschwand.
Merle keuchte auf und biss sich in die Faust, um nicht laut aufzukreischen. Entweder hatte sie nun völlig den Verstand verloren, oder sie sah wirklich Gespenster.
Ein Schürhaken fiel von der Esse und klapperte an der Stelle, wo die Erscheinung verschwunden war, zu Boden.
Dann hörte sie die Schritte. Schwere Absätze knallten über den Weg vor dem Haus. Ihr Blick flog zum Fenster und erhaschte einen Schatten, der an der Scheibe vorbeizog. Wieder einmal fauchte eine Katze, und dann schepperte ein Fensterladen irgendwo im Obergeschoss. Merle schloss die Augen und zwang sich, ganz langsam durchzuatmen und bis zehn zu zählen. Sie musste sich auf die Fakten konzentrieren, die auf solch grausame Weise einen Sinn ergaben. Hier im Haus spukte die kindliche Version von Hans durch die Räume, und draußen irrte das Wesen umher, das ihn verfolgt hatte: Greta. War sie vielleicht eine Manifestation der Wilden Frau? Hatte Jakob die Sage deshalb eben in ihrem Telefonat erwähnt? Merle hatte gar nicht mehr richtig zugehört. Aber das würde erklären, warum Omi stets höchst ungehalten reagiert hatte, wenn sie jemanden einem Kind mit der Wilden Frau drohen hörte, weil es nicht artig war. Mit so etwas sollte man nicht spaßen, hatte sie stets gesagt.
Merle schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was hatte ihre Großmutter eigentlich alles gewusst? Hatte das am Ende wirklich etwas mit den verschwundenen Kindern zu tun?
Merle wurde eiskalt. Falls das so war, trug sie tatsächlich eine Mitschuld. In den Händen ihrer Familie lag die Verantwortung, dass dieses Wesen keinen Schaden anrichtete.
Sie sprang auf und begann, in der Stube auf und ab zu laufen. Dabei spähte sie immer wieder aus allen Fenstern, doch draußen regte sich nichts mehr. Sie drehte sich wieder in den Raum und betrachtete die vertraute Umgebung mit neuen Augen. Obwohl sie das alles immer noch nicht glauben wollte, sortierte sie längst kalt und analytisch ihre Erinnerungen. Sie war nicht verrückt – und falls doch, so war auch ihre Omi wahnsinnig gewesen. Hans war ihr Spielkamerad gewesen, vor allem in der Zeit, in der sie hier gelebt hatte. Er hatte sie beschützt, sie getröstet und ihr erklärt, dass es ihrer Mutter jetzt besser ginge. Die kleine Merle hatte ihm das geglaubt. Sie hatten miteinander gespielt, und er hatte erzählt. Er hatte so viel erzählt.
Merle massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, um sich besser konzentrieren zu können. Sie hatte die Jungenstimme ganz genau im Ohr, so hell und sanft und manchmal ein bisschen besserwisserisch. Was genau hatte er alles erzählt? An dem Punkt ließ sie ihre Erinnerung im Stich. Nur an eines erinnerte sie sich, denn das hatte sie niemals tun dürfen: Hans berühren. Dabei hatte er manchmal so traurig ausgesehen, so einsam und verloren. In solchen Momenten hatte er nicht wie ein Kind gewirkt. Es hatte Merle tief berührt. Dann hatte sie sich in Omis Arme geflüchtet. Omi hatte sie verstanden, hatte aber scheinbar auch nichts für Hans tun können.
Als sie älter wurde, war Hans irgendwann verschwunden. Oder, nein, er war vermutlich die ganze Zeit hier gewesen, aber sie hatte den Kontakt zu ihm verloren. Wann war das geschehen? Als Björn, ihr echter Spielkamerad, in ihr Leben trat? Oder wäre sie so oder so irgendwann zu alt und abgeklärt gewesen, um Hans wahrnehmen zu können?
Sie seufzte. Und was nützte ihr nun diese große Erkenntnis? Oder den verschwundenen Kindern? Niemand würde ihr auch nur ein Wort dieser wirren Geschichte glauben. Und selbst wenn ihr jemand glauben würde, würde sie sich mit solchen Vermutungen in der Öffentlichkeit nur direkt in die Schusslinie stellen.
Merle schüttelte ungehalten den Kopf und begann, auf und ab zu laufen. Sie würde sich ohne zu zögern mitten auf den Marktplatz stellen und sich schuldig bekennen, wenn sie damit etwas bewirken könnte. Das Leben von vier Kindern, insbesondere Ronjas, wog so unendlich viel mehr als aller Schimpf und alle Schande, die das Dorf über ihr würde ausgießen können. Sie würde mit den Vorwürfen leben können, das Dorf kurz darauf verlassen und nie mehr wiederkommen.
Grübelnd trat sie ans Fenster. Ein großer Schatten, womöglich derselbe wie vorhin, huschte um die Hausecke in Richtung Scheune. Merle war es für den Moment egal. Hier im Haus war sie sicher. Sie war sicher, korrigierte sie sich, aber die Kinder nicht. Die waren
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