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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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Frau wie sie, die immer großen Wert darauf gelegt hatte, alles allein zu schaffen. Aber man musste sich eben eingestehen können, wenn man an seinen Grenzen angelangt war.
    »Also bis gleich. Ich freue mich auf dich und dein Häuschen. Es soll mir ein Bier kaltstellen.« Jakob lachte leise, dann legte er auf.
    Erleichtert steckte Merle das Smartphone in die Tasche und bog auf den Pfad zur Lichtung ab. Noch eine ganze Weile lächelte sie über Jakobs Worte. Als ob das Haus ein Lebewesen wäre.
    Manchmal war es ihr in Kindertagen tatsächlich so vorgekommen. Es hatte immer wieder Situationen gegeben, die merkwürdig waren, allerdings nie unheimlich. Das betraf besonders Björn und ihr gemeinsames Versteckspiel. Er war ein Meister darin gewesen,
nicht
an dem Ort zu sein, an dem sie ihn vermutet hatte. Wenn sie zum Beispiel geglaubt hatte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung in der Stube hinter der Esse ausgemacht zu haben, lief sie rasch dorthin, nur um festzustellen, dass Björn unter dem Esstisch hervorgeflitzt und zum Abschlagpunkt gelaufen war und das Spiel gewonnen hatte.
    Im Nachhinein war sich Merle natürlich sicher, dass Björn nie hinter der Esse gehockt hatte. Trotzdem war es ihr ab und zu so vorgekommen, als hätte sich das Haus mit Björn gegen sie verschworen. Doch beide waren ihr nie bösartig erschienen. Vermutlich war es ihre kindliche Erklärung gewesen, warum sie gegen ihren Freund immer verloren hatte. Für diese Deutung sprach auch, dass ihr diesbezüglicher Eindruck nachgelassen hatte, als Björn und sie elf oder zwölf Jahre alt geworden waren. Sie schüttelte den Kopf. Genug mit den Grübeleien über die Vergangenheit. Es war die Gegenwart, in der sie bestehen musste.
    Endlich war Merle an der Haustür angekommen. Hier hatte sich nichts verändert. Ganz wie sie vermutet hatte, sonnte sich Zora auf dem Sims des Fensters über dem Apfelsack und blinzelte ihr entgegen. Kaum hatte sie den Flur betreten, krachte die Haustür so laut zu, dass Merle zusammenzuckte und hastig in die Stube flüchtete.
    Trotz aller guten Vorsätze ließ sie der Gedanke an Björn und sein Talent beim Versteckspiel nicht ganz los. Er passte zu etwas, das ihr seit Tagen durch den Kopf ging, ohne dass sie es greifen konnte: Jakob hatte ganz richtig gesagt, dass Hans selbst in seiner Lebensgeschichte keine Vergleiche mit Märchen zog. Es könnte tatsächlich sein, dass ein Leser aus heutiger Sicht nur die Ähnlichkeit mit
Hänsel und Gretel
sah, ohne dass diese damals bestanden hatte.
    Doch in Merles Verstand regte sich ein riesengroßes »Trotzdem!« Irgendwie wusste sie ganz sicher, dass ihr jemand
erzählt
hatte, was es mit den Märchen auf sich hatte. Omi war es nicht gewesen. Im Geiste sah sie die ganze Zeit Björn vor sich, wie er in Kleiner-Junge-Manier eindringlich dozierte, was Merle über das Häuschen ihrer Omi wissen müsste. Er hatte seine umfangreiche Erklärung mit den Worten beendet: »Die Hexe war gar nicht die Böse! Das musst du dir merken!«
    Merle stutzte. Warum hätte Björn so etwas sagen sollen? Da waren ihr Erinnerungen verrutscht, so viel war mal sicher. Björn Dreher hatte mit dem Haus und ihrer Familie doch gar nichts zu tun, sondern war einfach ein Spielkamerad aus Kindertagen.
    Dann kam es, das »Trotzdem«: Björn war derjenige, der sie beständig zum Märchenspiel angehalten hatte. Omi hatte das tatkräftig unterstützt, aber sie war nicht die Initiatorin dieser Spiele gewesen. Außerdem hatte Björn häufiger Fantasiegeschichten erzählt, und in einigen davon war er die Hauptfigur gewesen. Wie passte das jetzt alles zusammen?
    Der Schaukelstuhl wippte. Doch von Luzi oder ihren Gefährtinnen war nichts zu sehen.
    Merle setzte sich auf die Couch. Sie betrachtete die hin und her wiegenden Kufen des Stuhls. Wie alt mochte das Möbelstück sein? Als alter Mann hatte Hans gern in einem Schaukelstuhl gesessen. War es der gleiche Stuhl, der jetzt vor ihr stand?
    Vor – zurück. Der Stuhl war immer noch in Bewegung. Warum eigentlich? Vor – zurück – vor – zurück. Der Anblick übte eine hypnotische Wirkung aus. Merle konnte sich nur schwer losreißen. Sie musste willentlich den Kopf heben und sah vor ihrem geistigen Auge wieder den Jungen, der den Märchenonkel mimte.
    Dann erstarrte sie.
    Das war gar nicht Björn.
    Das war Hans! Da saß er, im Schaukelstuhl, in diesem Augenblick! Er klappte das Buch zu, legte die Tonpfeife und die Brille darauf und stand auf. Mit zwei Schritten war er an der

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