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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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irgendwo da draußen und dem Wesen hilflos ausgesetzt! Himmel, was sollte sie nur tun? Sie musste unbedingt ihren Vater erreichen! Aber das allein brachte die Kinder nicht zurück. Außerdem gab es da noch ein weit schwerwiegenderes Problem: Vielleicht hatte sie jetzt erkannt, mit wem sie es zu tun hatte. Was man gegen das Wesen ausrichten konnte, wusste sie dagegen nicht. Hans hatte Greta einen vergifteten Apfel angeboten. Das würde nie wieder funktionieren. Wie war sie überhaupt aus dem Baum entkommen?
    Jakob könnte ihr helfen. Wenn er ihr glaubte, könnte er seinen Fundus an Märchen durchkämmen, um einen Weg zu finden, wie man die bösen Gestalten in Märchen üblicherweise bannte. Irgendeinen Weg, den Greta noch nicht kannte.
    Falls
er ihr glaubte …
    Merle hielt inne. Was war das? Sie schnupperte. Da lag ein unerwarteter und doch vertrauter Geruch in der Luft, nach Zimt und Anis, mit einer Zitrusnote.
    Sie ging wieder ans Fenster. Die Lichtung breitete sich in unschuldigem Sonnenlicht vor ihr aus. Es war vollkommen windstill. Nicht einmal am Waldrand bewegte sich etwas. Vielleicht war ihre Gegnerin dort draußen. Es wurde Zeit, dass ihr etwas einfiel, denn sie wollte nicht ausprobieren, was geschah, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzte.
    Sie wandte sich zurück in die Stube. Nichts, kein Hans, keine Katze. Sie ging hinter die Esse, um den heruntergefallenen Schürhaken aufzuheben. Als sie noch in der Hocke saß, erinnerte sie sich daran, wie Hans über seinen Sohn gewacht hatte, nachdem er ihn mit dem Schürhaken geschlagen hatte. Hier ungefähr an dieser Stelle musste es gewesen sein.
    Merle musterte die Holzvertäfelung mit zusammengezogenen Augenbrauen. Klar, da war das Bild mit dem Baum, der ein Gesicht hatte. Sie stellte sich davor und legte drei Finger auf das hölzerne Antlitz. Es gab nach. Sie drückte fester, und ein Quadrat mit etwa fünfundzwanzig Zentimeter langen Seiten schwang ein wenig vor. Nachdem sie die Fingerkuppen an den vorspringenden Rand gelegt hatte, konnte sie die Platte vollständig entfernen. Dahinter erspähte sie einen Hohlraum.
    »Das wolltest du mir zeigen!«, murmelte sie. Wenn man es wusste, war es lächerlich einfach.
    Merle griff in den Hohlraum und zog einige Seiten Pergament hervor. Das Papier war zwar brüchig, aber gut erhalten. Fassungslos starrte sie auf die Worte. Sie hatte sofort erkannt, um was es sich handelte: das lateinische Original von Hans’ Biographie und das Rezept. Das Lebkuchenrezept! Ob Omi davon gewusst hatte? Sofort lachte Merle über sich selbst. Natürlich hatte sie davon gewusst. Das Rezept lag nicht schon seit Hans’ Lebzeiten unberührt hier. Neben den alten Maßen Pfund und Schoppen waren die zeitgenössischen Werte in Gramm und Liter notiert. Es könnte Omis Schrift sein. Oder die eines anderen ihrer Vorfahren.
    Vorsichtig legte Merle das Dokument zurück und ließ sich mit dem Rezept in der Hand auf dem Boden nieder. Hans hatte dem Lebkuchen immer große Bedeutung beigemessen. Ob das Rezept am Ende etwas mit Greta zu tun hatte? Aber was konnte das sein? Warum hatte Omi den Kuchen immer so großzügig unter den Kindern verteilt? Noch ein Rätsel, das sie nicht lösen konnte, solange sie hier sitzen blieb und das alte Papier anstarrte. Vielleicht könnte sie etwas herausfinden, wenn sie es schaffte, sich die Zutaten zu besorgen und das Rezept nachzubacken.
    Es brauchte ein wenig Fingerspitzengefühl, doch dann hatte Merle die Platte wieder eingesetzt. Sie fragte sich kurz, warum das Original des Dokumentes hier lag, wo es doch in den Archiven des Klosters liegen müsste, wo es verfasst worden war, aber das interessierte sie im Moment nicht. Vielmehr wollte sie die Vorräte überprüfen und sehen, was an Gewürzen und Zutaten vorhanden war.
    Ein kurzer Vergleich ergab, was sie schon erwartet hatte: Omi hatte bis ins hohe Alter gebacken, und entsprechend waren alle Zutaten bis auf Milch und Eier im Haus. Und beides hatte Merle selbst mitgebracht.
    Ein Poltern und Rumpeln, gefolgt von einem Scharren, ließ sie zusammenfahren. Es kam aus Richtung Scheune. Sie lauschte auf weitere Geräusche, doch es blieb still.
    Merle bemerkte, dass ihre Angst kalter Wut gewichen war. Ihr treues Häuschen schützte sie, und dort draußen randalierte irgendwas fröhlich herum. Es reichte. Kurz entschlossen griff sie den Schürhaken und lief in den Flur. Kaum stand sie dort, verließ sie der Mut wieder. Sollte sie wirklich da raus? Was konnte sie schon gegen

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