So finster, so kalt
zu befragen. Jakob, hier gehen merkwürdige Dinge vor. Ich glaube, es hat etwas mit mir zu tun!«
»Mit dir? Warum sollte es?« Sein Tonfall wurde deutlich vorsichtiger. Klar, er wusste von den Alpträumen, vermutlich hielt er sie für paranoid! Sie musste sich an die Fakten halten.
»Im Umfeld von Omis Häuschen ist eine Lebkuchenspur gefunden worden. Omi hatte immer eine geheime Nische, aus der sich ein paar eingeweihte Kinder mit Lebkuchen bedienen durften. Ich habe nachgesehen, die Nische ist leer. Aber es könnte nach ihrem Tod noch Lebkuchen darin gewesen sein, den nun jemand verstreut hat. Heute Morgen habe ich dann eine Spur aus Äpfeln gefunden, die zu diesem Verbotenen Garten führte, von dem ich dir erzählt hatte. Irgendwer treibt sich um das Haus herum, und ich glaube, dass es etwas mit den Kindern zu tun hat.«
Jakob schwieg so lange, dass Merle schon überprüfen wollte, ob die Verbindung nicht abgebrochen war. »Meinst du nicht«, meinte er endlich, »dass du dich da ein wenig in diese Märchenthematik hineinsteigerst?«
»Märchenthematik? Das sind Fakten! Was haben diese Spuren mit Märchen zu tun?«
»Och, nein, nichts«, stimmte Jakob zu. »Was sollten Lebkuchen und Äpfel und im Wald ausgelegte Spuren schon mit Märchen zu tun haben?«
Merle hörte sehr wohl den sarkastischen Unterton. »Verdammt, Jakob, dann ist es eben der Kindesentführer, der sich auf diese Thematik verstiegen hat! Was weiß denn ich?«
Merle kam außer Atem und musste langsamer gehen, da der Weg weiter bergan führte. Der Wald umgab sie mit einem friedlichen und sonnenbeschienenen Spätvormittag.
»Hast du jemandem von dieser neuen Spur mit den Äpfeln erzählt?«
»Bisher nicht. Ich sagte doch, ich
glaube,
dass es was mit den Kindern zu tun hat, bin mir aber natürlich nicht sicher.«
»Gut. Ich an deiner Stelle würde zunächst nichts sagen. Vielleicht hat es wirklich nichts damit zu tun.«
Merle brummte ihre Zustimmung, insgeheim war sie nicht überzeugt, sondern froh und enttäuscht zugleich über diese abwehrende Reaktion. Froh, weil Jakob die nach logischen Gesichtspunkten einzig sinnvolle Erklärung in Worte fasste – und enttäuscht, weil sie ihm gern von dem kränklichen Zustand des Baumes erzählt hätte, und von der winkenden Gestalt, die sie kurz in dessen Schatten zu sehen geglaubt hatte. Mit irgendwem musste sie darüber reden, sonst drehte sie noch völlig durch.
»Und was machst du jetzt?«, wollte Jakob wissen.
»Ich bin auf dem Weg zurück nach Hause. Eine der Mütter hat mich beschimpft und meine Großmutter als Hexe bezeichnet. Ich sollte das nicht an mich heranlassen, aber es geht mir nahe.«
»Das heißt, du ziehst dich in deinen Zufluchtsort zurück.«
Merle stutzte. »Ein bisschen stimmt das.«
»Ich bin wirklich gespannt, deinem Häuschen irgendwann mal die Klinke zu schütteln. Es muss ein toller Ort sein.« Es hörte sich aufrichtig an, doch Merle konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Jakob ein wenig eifersüchtig war. Sie rief sich innerlich zur Ordnung. Ihr neuer Freund sollte neidisch sein auf ein Haus im Wald? Wie albern wäre das, bitte schön?
»Es ist ein sehr charmantes Haus, Jakob. Ihr werdet einander gut verstehen«, erklärte sie daher mit Nachdruck.
»Aber sicher. Wir haben den gleichen Geschmack, dein Häuschen und ich. Es soll dich gut behandeln. Ach, und bei der Gelegenheit müsten wir darüber sprechen, ob deine Oma sich auch mit der Sage um die Wilde Frau befasst hat. Aber das hat Zeit. Pass auf dich auf, und wenn du ein bisschen Zeit hast, freue ich mich darauf, wenn du dich bald wieder meldest.«
Okay, Merle erkannte die Steilvorlage. Mit einem Mal wurde der Wunsch nach einem Verbündeten übermächtig. Jakob wäre hier fremd, wie sie. Er könnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte, und sie unterstützen, falls es zu weiteren Angriffen kam. Wenn sie ihn bat, wieder zu verschwinden, würde er das respektieren. Zumindest hoffte sie das.
»Jakob, kannst du herkommen? Ich brauche hier einfach jemanden, mit dem ich reden kann.«
»Klar.«
»Wirklich?«
»Nein, das meinte ich ganz ernst: Klar komme ich. Ich bin um ungefähr vier Uhr da. Aber bist du dir sicher, dass es dir ernst ist?«
»Natürlich. Sonst würde ich dich nicht bitten.« Merle hoffte, dass es überzeugter klang, als sie war. Wenn ihr Vater erst mal da war – und irgendwann musste er auftauchen –, hätte sie zwei Menschen um sich, die sie unterstützten. Zwei Männer für eine
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