So frei wie der Himmel
nächsten Tag warten konnte wie jeder normale Mensch.
So viel zum Thema "die Karten auf den Tisch legen".
Nein, er musste sich bedeckt halten. Trotzdem schnappte er sich den Hörer und sah sich auf dem Display die eingegangenen Anrufe an. Vielleicht hatte sie es ja bei ihm versucht.
Fehlanzeige - die Anrufe kamen von seiner Mutter, einem Kumpel, der vermutlich eine Pokerrunde auf die Beine stellen wollte, und Brandi.
Er seufzte. Sosehr er sich nach etwas Ablenkung sehnte, mit keinem dieser Anrufer wollte er sprechen. Aber seine Eltern wurden langsam alt - sie waren Mitte sechzig. Vielleicht waren sie krank oder hatten einen Unfall gehabt.
Sicherheitshalber hörte er die Nachricht seiner Mutter ab. Sie wollte wissen, wie es ihm ging. Und was er davon hielt, mit der Firma an die Börse zu gehen.
Er löschte die Nachricht und nahm sich vor, seine Eltern am Morgen zurückzurufen. Was den nächsten Anruf betraf, hatte er richtig gelegen. Utah Slim Jackson war in der Stadt und wollte pokern. Falls Jesse dabei sein wollte, sollte er seinen Hintern möglichst schnell zu Lucky’s schaffen. Pronto.
Jesse grinste. Eine elektronische Stimme sagte: "Wenn Sie jetzt zurückrufen wollen, drücken Sie bitte zweimal die Acht." Das tat er.
"Jede Menge Geld wechselt hier gerade den Besitzer", sagte Utah Slim. Im normalen Leben war er Versicherungsvertreter und hieß Milton. "Soll ich dir einen Platz freihalten?"
"Mach das", bat Jesse.
Jetzt noch Brandis Nachricht. Wahrscheinlich wollte sie ihm wieder von ihrem armen, aber ehrlichen Freund vorschwärmen, dem zukünftigen Herrn Doktor. Vermutlich brauchte sie Geld, das er ihr morgen übers Internet überweisen konnte. Sein schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, als er den Hörer einhängte, ohne ihre Nachricht abgehört zu haben.
In seinem Zimmer schlüpfte er in alte Jeans, T-Shirt und Stiefel und setzte eine Baseballkappe auf. Dann lief er schnell in den Stall, füllte die Tröge für den Morgen und überprüfte, ob die automatische Wasserversorgung funktionierte. Ein paar Pferde wieherten, doch die meisten nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis. Kurz darauf saß er in seinem Truck auf dem Weg nach Indian Rock.
Die schlaflose Nacht wäre sinnvoller gewesen, wenn ich mir Sorgen über Nigel und seine Drohungen gemacht hätte, dachte Cheyenne, als sie ihr Gesicht im Badezimmerspiegel musterte. Doch die peinliche Wahrheit war, dass sie immer wieder Jesses Küsse nacherlebt und ungeduldig darauf gewartet hatte, dass das fiebrige Gefühl endlich ihren Körper verließ.
Was nicht geschah.
Bei Tagesanbruch gab sie auf, quälte sich aus dem Bett und ging unter die Dusche. Danach bereitete sie im Bademantel Frühstück für Ayanna und Mitch vor. Beim Essen redete ihr Bruder die ganze Zeit über den gestrigen Abend und überlegte laut, ob er Bronwyn anrufen sollte, um zu fragen, "wie es ihr so geht".
Cheyenne war zu abgelenkt, um zu antworten.
"Wag es bloß nicht, das Mädchen vor neun Uhr anzurufen", befahl Ayanna ihrem Sohn und küsste ihn zum Abschied auf die Stirn. In der Küchentür blieb sie noch einmal stehen und warf Cheyenne einen besorgten Blick zu, bevor sie zu ihrem Wagen eilte.
"Du solltest dich besser anziehen, bevor Jesse vorbeikommt und das Geländer an der Rampe anbringt oder sonst was", riet Mitch ihr, wobei er ihren Bademantel missbilligend musterte.
"Besten Dank", erwiderte Cheyenne. Um halb zehn hatte sie eine Verabredung mit Keegan, und das bedeutete die volle Kampfausrüstung: Kostüm, Strumpfhose, Makeup, hohe Absätze. Sie musste sich zwingen, in der Küche zu bleiben und das Geschirr abzuwaschen. Denn Jesse kam tatsächlich öfter mal unangemeldet vorbeigeschneit, und allein die Vorstellung, dass er sie in diesem schäbigen alten Bademantel sah, war schrecklich. Noch schrecklicher allerdings wäre ihr Geschäfts-Outfit. Sie wollte gerade in ihr Zimmer rennen, als das Telefon klingelte.
Nigel?
Zögernd nahm sie den Hörer ab. "Hallo?"
"Cheyenne? Hier ist Sierra. Ich rufe nur an, um dich an den Pokerunterricht zu erinnern. Im Lucky’s. Mittagessen um zwölf."
"Schön", sagte Cheyenne. Dann musste sie sich nach dem Gespräch mit Keegan noch umziehen. "Es war ein tolles Fest, Sierra. Danke noch mal für die Einladung."
"Gern geschehen", sagte Sierra herzlich. "Bis nachher."
"Bis nachher."
Um neun Uhr fünfundzwanzig fuhr sie auf den Parkplatz von McKettrickCo. Dort blieb sie eine Weile in ihrem Geschäftswagen sitzen, die feuchten Hände am
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