So fühlt sich Leben an (German Edition)
sie auf der Abschussliste standen, weil sie mit der Stasi zusammengearbeitet hatten. Oder sie konnten sich aus demselben Grund nirgendwo mehr sehen lassen. Man darf das nicht unterschätzen: Bei einem einzigen Haus in Marzahn reden wir von hundert, hundertfünfzig, zweihundert Menschen, und genauso vielen konnten sie jetzt nicht mehr unter die Augen treten; der Druck, unter dem sie standen, muss unerträglich gewesen sein. Dazu kamen Leute, die mit dem alten System so stark verwurzelt gewesen waren, deren Lebenseinstellung so eng mit dem sozialistischen Staat verbunden gewesen war, dass sie mit ihm zusammen untergehen wollten.
Es waren jedenfalls nicht wenige, die den Aufzug in den einundzwanzigsten Stock nahmen, über die Feuertreppe auf den letzten Balkon gelangten und sprangen. Für mich war das unglaublich. Ich fuhr selbst hoch, um mir das anzuschauen, um ein Gefühl für diese Höhe und die Verzweiflung dieser Menschen zu bekommen; ich sagte mir da oben: Niemals, niemals, niemals könntest du das machen. Die Selbstmordserie riss nicht ab, und da habe ich mich gefragt, ob auch mein Vater springen könnte.
Ich wusste, dass er mit der Wende nicht zurechtkam. » Ich bin kein Wendehals«, sagte er. » Ich bin keiner von denen.« Für ihn war das eine Frage der Selbstachtung, und er konnte nicht aus seiner Haut, überzeugt vom Sozialismus, überzeugt von diesem Staat und dessen Werten, wie er als echtes Kind der DDR eben war, und ich sah ihn nun mit anderen Augen. Nicht, dass ich meine Befürchtung ihm gegenüber geäußert hätte, aber nach Anzeichen habe ich gesucht. Nach Anzeichen dafür, dass er mit diesem schrecklichen Gedanken spielen könnte.
Wenigstens war er nicht arbeitslos. Mein Vater war übernommen worden. Er hatte seine Dienststelle an der Marschallbrücke noch abwickeln und der Bundesrepublik Deutschland übergeben dürfen und war dann zur Zollzentrale in der Grellstraße versetzt worden. So gesehen hatte er Glück gehabt. Es war ihm aber auch nichts vorzuwerfen gewesen. Er hatte nichts mit der Stasi zu tun gehabt, und er hatte in der Partei keine Rolle gespielt. Andere schon. Wer bei der Stasi gewesen war, wurde sofort entlassen. Der ging dann zum Wachschutz, weil er mit seiner Ausbildung im Nahkampf oder als Hundeführer für diesen Job prädestiniert war, oder er nahm sich das Leben. Für meinen Vater muss es schwer gewesen sein, mit anzusehen, wie Kollegen, die in seinen Augen jahrelang gute Arbeit geleistet hatten, von heute auf morgen abgesägt wurden und jetzt als Sicherheitssigi die ganze Nacht mit einem Hund auf einem Baugelände rumrennen mussten. Das war kein Einzelschicksal, und meinem Vater werden all diese privaten Tragödien nahegegangen sein.
Sehr viel später hat er mir gestanden, nach der Wende tatsächlich das eine oder andere Mal an Freitod gedacht zu haben. Gut, die Bundesrepublik Deutschland hatte ihn überprüft und war zu dem Schluss gekommen: Den Herrn können wir ohne Bedenken weiteragieren lassen, aber bis dahin hatte er in der Luft gehangen, und als es so weit war… Plötzlich waren seine Vorgesetzten Beamte aus Westdeutschland. Und für jemanden wie ihn, der als Zugführer eine Autorität dargestellt hatte, war es alles andere als leicht, sich von Leuten etwas sagen zu lassen, denen er zeit seines Lebens den Stinkefinger gezeigt hatte, ihnen und ihrem Scheißsystem. Aber schließlich hat er’s doch gepackt. Fünf Jahre hat er gebraucht, und bestimmt waren seinem Entschluss, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren, viele Gespräche mit meiner Mutter und seinen Arbeitskollegen vorausgegangen– mit sich allein kann man so was wohl kaum ausmachen. Und heute sagt er sich wahrscheinlich: Ich muss nicht alles zu meiner Wahrheit machen, aber der Sozialismus hatte keine Zukunft, und ich verdiene auch unter den neuen Herren mein Geld.
Also, meine Befürchtungen waren begründet, aber gesprungen ist er nicht. Im Stich gelassen hat er uns in meinen Augen später trotzdem. Drei Jahre nach der Wende nämlich verließ er meine Mutter.
Ich will die Geschichte kurz erzählen, weil sie zeigt, wie durcheinander die Leute waren und dass auch bei uns zu Hause so einiges zusammenbrach. Mein Vater bändelte mit einer Arbeitskollegin an und ließ meine Mutter allein am Murtzaner Ring sitzen. Da war der Sohnemann ganz schön sauer auf seinen Senior, zumal meine Mutter unendlich litt, immer mehr abbaute, nur noch im Bett lag und kaum mehr was aß. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, habe
Weitere Kostenlose Bücher