Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
Vom Netzwerk:
eine Idylle dagegen.
    Noch.

7 | Coke für den Sumpf
    Aufzuhalten aber waren sie nicht, die Hunde des Kapitalismus. Oder sollte ich sie die Hunde der Freiheit nennen? Wie auch immer– es dauerte nicht lange, da übernahmen sie auch Marzahn, und im Handumdrehen verwandelte sich unser sozialistisches Musterstädtchen in einen übelriechenden, aber schillernden Sumpf. Mit dem Ergebnis, dass wir diesen herrenlosen Kötern im Lauf der Zeit ähnlich wurden, auf die eine oder andere Weise.
    Symbol des Wandels, den die Wende bewirkte, war für mich eine Veränderung in der unmittelbaren Nachbarschaft. In die Wohnung der Stasibeauftragten Paschulke, die rechtzeitig verduftet war, zog später eine Prostituierte ein. Die neue Zeit hatte eben ein anderes Gesicht. Und einen anderen Hintern.
    Dass sie eine Prostituierte war, daran bestand kein Zweifel. Jede Nacht war sie unterwegs, und alle zwei, drei Tage kam ihr Zuhälter, um zu kassieren. Stimmte die Kohle nicht, machte er Rabatz und trat auch mal die Tür ein. Was mich angeht, ich konnte der Neuen in jeder Hinsicht mehr als Frau Paschulke abgewinnen. Schon deshalb, weil sie sich gar nicht erst die Mühe machte, seriös zu wirken, und ihren Müll zum Beispiel grundsätzlich halbnackt runterbrachte, nur mit Schlüpfer und T-Shirt bekleidet. Damals hatte ich bereits meine eigene Wohnung, hielt mich aber häufig bei meinen Eltern im Murtzaner Ring auf und war begeistert, als sie mir zum ersten Mal mit ihrem Müll auf der Treppe begegnete. Ich fand sie extrem heiß, besonders ihren Po. Eine echt hübsche Frau, dabei immer nett und freundlich.
    Fast noch mehr hatte es mir aber ihr Zuhälter angetan, ein Lude wie aus dem Bilderbuch, mit Boxerschuhen, enger Hose, Zuhälterschnurrbart und einer echten Ludenschleuder, einem 560 SEC Coupé. Heute würde ich sagen: der totale Laschek, eine Witzfigur, aber damals war er für mich eine Erscheinung, Inbegriff und Krönung des kapitalistischen Systems. Eines Tages stehe ich auf dem Balkon, und er kommt mit seinem 560er angefahren und lässt die Karre einfach mitten auf der Straße stehen. Ist halt ein Gangster, sucht erst gar keinen Parkplatz, steigt einfach aus, schlendert lässig auf unseren Hauseingang zu, fährt hoch und verschwindet bei seiner Perle, während sein Auto die Straße blockiert.
    Da kommt ein Müllauto. Klar, der Fahrer hupt. Hupt noch mal. Und noch mal. Und irgendwann guckt der Bursche ein paar Fenster weiter raus und brüllt:
    » Was wollt ihr?«
    Die Müllmänner: » Fahr deine Scheißkarre weg!«
    Er: » Alles klar. Ick komm jetzt runter und fahr sie weg!«
    Kaum dass er unten war, muss einer der Müllmänner einen blöden Spruch losgelassen haben, jedenfalls rumpelt es im nächsten Moment fürchterlich im Gebälk, die drei Müllmänner liegen in Nullkommanix flach, und er steigt ein, fährt seine Karre rückwärts auf den Bürgersteig, lässt sie da stehen und kommt wieder hoch.
    Perfekt. Alle Klischees bedient. Hat mir imponiert. Aber sie war eben auch nicht zu verachten, und ab und an, das gebe ich zu, habe ich ihr aufgelauert und abgewartet, bis sie wieder ihren Müll rausbrachte. Nur, um ihr auf den Arsch zu kieken.
    Bedeutend weniger lustig war, was sonst so geschah. Um nur von unseren Nachbarn im weiteren Sinne zu sprechen, also unseren Mitmenschen in Marzahn…
    So drei, vier Jahre nach der Wende ging es los. Die Wendeeuphorie der einen war verflogen, die Wendestarre der anderen hatte sich gelöst, und plötzlich konnte es dir in Marzahn passieren– ich selbst habe das mehrfach erlebt–, dass du vor Kreidestrichen auf dem Asphalt standest, die den Umriss eines menschlichen Körpers nachzeichneten, Arme und Beine so komisch abgewinkelt und überall reichlich Blut. Anfangs hieß es: Da ist einer aus dem Fenster gefallen. Beim Fensterputzen. Aha, habe ich gedacht. Kann vorkommen. Aber wenn es eine Woche später wieder passiert. Und drei Tage später noch mal. Und hier und da, und wieder hier… dann wundert man sich schon und fragt sich: Wieso fallen auf einmal so viele Menschen aus den Fenstern? Irgendwann habe ich meine Eltern angesprochen, und da hieß es, all diese Blutlachen und Kreidestriche seien Selbstmörder. Die seien gesprungen.
    Warum?, habe ich gefragt. Es hat sie doch keiner bedroht?
    Existenzangst, hat meine Mutter geantwortet, und da wurde mir die Sache allmählich klar. Niemand sprach darüber, aber Fakt war: Die Leute verloren ihren Job und saßen arbeitslos zu Hause rum. Oder sie wussten, dass

Weitere Kostenlose Bücher