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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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angeordnet.
    Sie sind mit mir zum Haus meiner Eltern gefahren, haben alles durchwühlt und sind natürlich fündig geworden, vor allem im Keller, wo die Armee-Kiste mit meinen Utensilien stand. Da war alles sonnenklar. Eindeutiger können Indizien gar nicht sein. Die Anzeige wegen Sachbeschädigung ließ nicht lange auf sich warten; was mich aber am meisten ärgerte, war, dass meine sämtlichen Arbeiten, Entwürfe und Fotos konfisziert wurden. Wenigstens blieb meinen Eltern der Schock erspart, weil sie am Tag der Hausdurchsuchung draußen in ihrem Garten waren.
    Jedoch, wie gesagt, alles auf Verdacht. Und Verdacht reicht eben nicht. Auf Indizien hin darf kein Richter dich verurteilen. Weil sie ein Exempel an einem namhaften Sprüher statuieren wollten, haben sie es trotzdem versucht– und mir damit, so verrückt es klingt, sogar eine Freude gemacht. Denn bei der Verhandlung wurden mir alle meine Arbeiten ordentlich sortiert in Fotoalben präsentiert, und ich war kurz davor, mich zu bedanken. Es war ein regelrecht erhebender Moment, als der Richter mich nach vorn bat und mir mehrere große Fotoalben vorlegte, mit sechs Bildern auf jeder Seite, wunderschön anzusehen und säuberlich beschriftet mit Angaben zu Ort, Zeit und Abmessungen, zum größeren Teil meine eigenen Fotos, zum kleineren solche, die die Polizei ihrerseits aufgenommen hatte, und ich konnte nur dankbar anerkennen: So ordentlich hätte ich das nie hingekriegt, das war schon fast ein Ausstellungskatalog, ich hätte damit eine Galerie eröffnen können… Ich habe alles abgestritten. Ja, das sind meine Fotos, aber nein, meine Graffiti sind es nicht. Ich blieb stur, wir kamen mit der Verhandlung nicht weiter, und irgendwann sagte der Richter zu mir: » Lassen Sie uns kurz rausgehen. Ich möchte ein Gespräch unter vier Augen mit Ihnen führen.«
    Wir also raus aus dem Gerichtssaal auf den Gang, und da schlug er mir vor, meine Kollegen zu verpfeifen. Er hatte alle auf dem Schirm, die in Marzahn zur Szene gehörten, den Hightower, den Lote, er wusste bestens Bescheid, nur dass ihm das nichts nützte, weil ich mich weigerte. Da hat er aufgegeben.
    » Pass auf«, sagte er, » fällst du noch ein Mal auf, erscheint nur ein einziges neues Razia-Bild, stehst du wieder hier.«
    » Wird nicht passieren«, habe ich geantwortet.
    Und es auch so gemeint. Ich war nämlich ohnehin drauf und dran auszusteigen. Ich hatte alles erreicht, was man als Sprüher erreichen konnte. Ich hatte den Ruhm eingestrichen, ich war weit über Berlin hinaus bekannt, ich hatte es bis ins Hip-Hop-Lexikon geschafft– und abgesehen davon zog sich die Schlinge um meinen Hals immer enger zusammen. Einige Tage später habe ich mich deshalb mit meinen Freunden aus der Sprüherszene getroffen und ihnen meinen Ausstieg mitgeteilt. » Ich will aufhören. Im Prozess ist alles cool gelaufen, und ein anderer würde jetzt wahrscheinlich unter neuem Namen weitermachen, aber mir bringt es nichts mehr, ich kenne jetzt jede Wand, ich steige aus.« Na gut. Alles easy, alles okay.
    Es war weit nach Mitternacht, als ich von meinen Marzahner Kumpeln in der S-Bahn Abschied nahm. Sie stiegen am Springpfuhl aus, ich musste eine Station weiter, bis Poelchaustraße, und als ich da auf dem Bahnsteig stehe, sehe ich: Alle Wände gebufft. Das heißt, alle Graffiti entfernt und die Wände mit leicht abwaschbarer Schutzfarbe lackiert. Viel zu sauber, denke ich. Viel zu normal. Wozu hast du deine Dose? Eine letzte, allerletzte hatte ich nämlich noch dabei, und sie war beinahe voll. Komm, habe ich mir gesagt, mach sie noch leer. Da habe ich eine fat cap draufgesetzt und den gesamten Eingangsbereich besprüht, bis kein Tropfen mehr rauskam.
    Alles war still. Um diese Uhrzeit ist in Marzahn gewöhnlich nichts mehr los. Da höre ich Autotüren schlagen. Aus der Richtung des Parkplatzes. Zwei Schläge. Scheiße, denke ich. Kein normaler Bürger treibt sich um diese Zeit auf der Straße herum. Ich gucke raus und sehe zwei Gestalten in der Dunkelheit. Was tun? Dose wegwerfen? Aber wohin? Und meine befleckten Hände? Handschuhe hatte ich keine an, war ja nicht geplant gewesen. Wenn sie dich jetzt kriegen, bist du fällig. Dann haben sie dich, und du stehst wie ein dummer, kleiner Anfänger da.
    Also angreifen.
    Einfach entgegengehen.
    Ich hätte mich mit ihnen auch geprügelt, doch dazu kam es nicht. Sie liefen auf mich zu, ich lief auf sie zu. Die Dose hielt ich so, dass sie von meinem Arm verdeckt wurde. Die beiden gingen

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