So fühlt sich Leben an (German Edition)
Skizzenbuch durch. Damals benutzte ich bereits die sogenannten Copic-Stifte, also Stifte auf Alkoholbasis, mit denen sich tolle Übergänge produzieren ließen, sah aus wie gesprüht, und dementsprechend aufregend fielen die Ergebnisse aus. Er blätterte also und staunte.
» Sieht gut aus«, meinte er. » Wollen wir uns nicht mal privat treffen?«
» Super Idee«, anwortete ich. » Lass uns mal quatschen.«
Nur Tage später rief er an: » Ich hätte Zeit.«
» Prima«, sagte ich, » komm vorbei«, gab ihm meine Adresse in der Ringelnatz-Siedlung und habe mich tierisch gefreut.
Dann stand Waffel bei mir im Zimmer, eine Flasche Baileys unterm Arm. Damit man einigermaßen begreift, was das für ein Ereignis war, will ich Waffel kurz beschreiben.
Waffel ist ein Ein-Meter-Fünfundneunzig-Mann, ein korpulenter, großer Brummbär mit der tiefsten Stimme, die ich je gehört habe. Entstammt einer Arbeiterfamilie, hat aber nichts Proletarisches an sich, legt größten Wert auf Stil und Ästhetik, hat eine wunderbare Aussprache und eine Wahnsinnspräsenz, ganz gleich, ob er auf der Bühne oder in deiner Bude steht. Dazu die Ruhe in Person. Keine Spur von Aufgedrehtheit. Unterhalte dich mit ihm, und du hast den ausgeglichensten, gelassensten Menschen als Gesprächspartner, den du dir wünschen kannst. Mit ihm verglichen war ich aufgekratzt. So einen wünscht man sich als Lehrer, und so einen bekam ich als Lehrer.
Wahrscheinlich war Waffel die Idee schon in Leipzig gekommen. Jedenfalls, der Baileys wurde unser Standardgetränk– wann immer er mich besuchte, brachte er eine Flasche mit, und umgekehrt–, und nach der dritten Flasche, also am dritten Abend, als wir schon einen schönen Baileys-Gong hatten, sagte er zu mir:
» Mir gefallen deine Sachen. Wollen wir nicht einen Deal machen?«
» Ey, Dicker«, fragte ich, » was hast du vor?«
» Ich würde gern sprühen lernen. Wie wär’s– ich bringe dir Rappen bei, und du bringst mir Sprühen bei…?«
Ich aufgesprungen, er aufgesprungen, und hip-hop-mäßig die Handflächen zusammengeklatscht.
» Alles klar. So machen wir das.« Wahnsinn. Auf diese Art könnte ich im Hip-Hop bleiben, aber zur Abwechslung mal was Legales betreiben.
Wir wurden dicke Freunde.
Dass diese Freundschaft immer dicker wurde, konnte ich an meiner Vitrine ablesen. Darin habe ich die leeren Baileysflaschen gesammelt. Die wurden nie weggeworfen, und am Ende, nach gefühlten fünf Jahren (in Wirklichkeit deutlich weniger), war diese Vitrine gerappelt voll mit Flaschen. Jeden Abend, den Waffel bei mir zubrachte, haben wir uns eine Flasche Baileys an den Hals gesetzt und ausgesoffen, und wenn wir in Stimmung waren, ging’s los.
Bei Ben Sami Mansour besorgte sich Waffel ein black book, ein Skizzenbuch mit richtigem Zeichenpapier, das die Farbe schön aufnimmt, und ich brachte ihm bei, wie man zeichnet, von den Vorskizzen mit Bleistift bis hin zum Farbegeben und Outlines malen. Er wiederum erteilte mir Lektionen im Rappen.
Wie sich zeigte, war er genau der richtige Lehrer für mich. Er nahm sich Zeit, er ließ mir Zeit, er erklärte mir in aller Ruhe die Reimschemata, wie man schachtelt und wie man auf den Punkt kommt, wie man einen Doppelreim anlegt und wie man mehrsilbige Reime baut, und schließlich habe ich meine ersten eigenen Texte geschrieben, auf Englisch, das konnte ich ja halbwegs. » Dicker, ist gut«, sagte er dann, » aber du hast zu viele Wörter in der Zeile. Nimm welche raus.« Oder: » Was ist dir wichtig? Der flow, der gleichmäßige Sprachfluss? Oder willst du lieber abgehackt sprechen?«
Nach einer Weile gingen wir zur Praxis über. Einer meiner Räume hatte ein Tonnengewölbe, von dem eine Lampe tief herunterhing, eine Lampe, die nur noch aus der Glühbirne bestand, und wir sind, angetörnt von unserem Standardgesöff, immer um diese Lampe gelaufen, » a one, a two, a three, a four«, wobei er mir beibrachte, mit meiner Luft auszukommen und meinen Takt zu halten. Ein Mensch, der keinen Takt halten kann, der kann nicht rappen. Danach dasselbe mit Songtexten, wieder um die Lampe herum, die Baileysflasche in der Hand. In der Bewegung zu rappen fiel deutlich leichter als im Sitzen. Ich hatte Laminat in meiner Wohnung, und ich erinnere mich, dass der Boden um meine Lampe herum irgendwann abgetreten war, weil wir die Schuhe nie auszogen; da blieb nach Hunderten von Runden ein heller Kreis zurück.
Wir wurden beide immer besser. Waffels Styles in seinem Black Book konnten sich
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