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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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werden, und zwar aus weit weniger triftigen Gründen als denen, die wir an jenem Wochenende auf dem Helene-Weigel-Platz hatten.

11 | Marzahn um Zahn
    Offen gesagt, auch wir waren damals, mit achtzehn, neunzehn, schon nicht mehr ohne. Sven zum Beispiel prügelte sich viel rum. Er war Einzelgänger wie ich, hatte aber keine Verbindung zur Sprüherszene. Innerhalb von Hellersdorf war er berüchtigt, und außerhalb gab es viele, denen » Gillert aus Hellersdorf« ein Begriff war. Mit Sven machten selbst die Nazis keine Faxen. Nur einmal geriet er in eine fürchterliche Situation. Da konnte auch ich ihm nicht mehr helfen. Und ich hätte ihm so gern geholfen.
    Wir hielten uns gerade im Jugendklub auf, ich und zwei, drei andere, da kam Gillert vom Springpfuhl her angerannt, von einer Nazimeute gehetzt, zwanzig Mann bestimmt, und weil er uns drinnen vermutete und in der Hoffnung auf Verstärkung stürmte er herein– » Scheiße, die jagen mich. Wer ist da?«–, registrierte mit einem Blick, dass wir zu wenige waren, und rannte sofort weiter, raus und die Straße runter, den Nazis geradewegs in die Arme. Er riss sich los, sah einen Bus an der Haltestelle stehen, erreichte ihn, trommelte gegen die Tür, brüllte– und der Fahrer machte nicht auf. Natürlich haben sie ihn da erwischt. Der Bus fuhr ab, und wir mussten aus etwa hundert Meter Entfernung mit ansehen, wie Sven von zwanzig Nazis angegriffen wurde. Wir hatten ja damals noch keine Handys. Ich ruf mal schnell zehn Leute an, das ging nicht, und bei einer Aktion von zwei Minuten wäre es auch sinnlos gewesen. Einzeln hätte keiner von denen eine Chance gegen Sven gehabt. Aber bei einem Verhältnis von eins zu zwanzig war selbst mein Svenne überfordert. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich war nie scharf aufs Prügeln. Damals nicht und heute erst recht nicht. Schon als Kind bin ich jeglicher Konfrontation, die mit welchem Körperteil auch immer ausgetragen wurde, aus dem Weg gegangen. Einzige Ausnahme: der Mund. Ich habe versucht, mit Worten zu schlichten, vielleicht auch mal verbal Öl ins Feuer gegossen, aber sobald die Fäuste flogen, bin ich zur Seite getreten. Erst später, als ich mich verteidigen musste, in den Straßen von Marzahn oder an der Tür, habe ich gemerkt: Oha, da ist ja ein ganz schöner Wumms hinter. Du schlägst eine ganz gute Rechte, mein Junge.
    Dabei habe ich nie geboxt. Auch keinen Kampfsport betrieben. Ich weiß noch– wir haben im Schulsport mal geboxt. Da bin ich mit Matthias auf die Matte, in der Annahme, das kann ja gar nicht wehtun, die Faust steckt doch im Handschuh. Pustekuchen. Einen Schlag ans Kinn, einen auf die Nase, und ich war bedient. Ich habe mich nicht mal gewehrt, ich habe nur gesagt: » Nee, keene Lust mehr. Macht keen Spaß.« Beim Tischtennis war es was anderes, mit einem Tischtennisball kann man niemanden auf die Bretter schicken. Also, ich war nie der kleine Rabauke, und später, bei der Bundeswehr, habe ich eine regelrechte Antipathie gegen Waffen und Militär entwickelt. Mit anderen Worten: Für nackte Gewalt habe ich nichts übrig.
    Was– zu meinem größten Leidwesen und tiefsten Bedauern sei es gesagt– nicht bedeutet, dass Gewalt auf den folgenden Seiten eine untergeordnete Rolle spielen würde. Keineswegs. Aber der Reihe nach.
    Es erhob sich nämlich die Frage des Geldverdienens. Eine Frage, die man allerdings auch anders formulieren konnte und die dann so lautete: Was könnte ein Haufen Sprüher, der sowieso schon einer illegalen Tätigkeit nachgeht, unternehmen, um sich einigermaßen angenehm über Wasser zu halten? Mit Betonung auf » angenehm«.
    Jetzt war es nicht so, dass wir umgehend und mit Hurra in die Kriminalität abgeglitten wären. Auch einem Sprüher eröffneten sich Möglichkeiten eines legalen Erwerbslebens, und die habe ich durchaus genutzt. Zum Beispiel konnte man Auftragsarbeiten annehmen, also in einen ganz normalen Laden gehen– sagen wir: eine Metzgerei–, sich vorstellen und fragen, ob der Inhaber nicht mal über eine Fassadenverschönerung nachdenken möchte– » Schönen guten Tag, mein Name ist Stoll, ’ne Frage: Ihre Außenwerbung sieht ein bisschen lasch aus, nicht wirklich einladend– haben Sie schon mal darüber nachgedacht, Ihr Erscheinungsbild aufzufrischen? Nein?« Wenn die Mienen dann nicht versteinerten, bin ich nach Hause gefahren, habe einen ordentlichen Entwurf gemacht und bin drei Tage später wieder in den Laden spaziert: » So könnte Ihre Fassade

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