So fühlt sich Leben an (German Edition)
Mey gesprochen.
Doch auch sonst war die Marzahner Wirklichkeit für einen Songschreiber weiterhin ausreichend ergiebig, wobei mich angrenzende Bezirke ebenso mit Stoff belieferten. Hohenschönhausen zum Beispiel.
In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre ging es mit den Glatzen merklich zurück. Gleichzeitig war immer häufiger zu hören, Russen würden sich in diesem Teil Berlins sehen lassen; in Ahrensfelde sollten sie sogar eine eigene Siedlung haben. Außer meinen Kennzeichenfälschern war ich noch keinen Russen begegnet, aber Gerüchten zufolge war mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Sie seien dabei, den Drogenhandel in Marzahn zu übernehmen, hieß es, und dass sie irre seien, total durchgeknallt. Dann wieder erfuhr man, dass sie unter den Nazis aufräumen würden. Nun gut, ich konnte dazu nichts sagen, bis ich eines Tages persönlich mit einem Russen zu tun bekam.
Damals hatte ich Freunde in Hohenschönhausen, die ich durchs Sprühen und über den Rap kennengelernt hatte. Einer von ihnen, Leddel, seines Zeichens DJ , wusste von einem Klub draußen zwischen Weißensee und Hohenschönhausen, der täglich warmes Essen für eine Mark anbot. » Da gibt’s richtig geile Spirellis«, sagte er. Dieser Klub lag abgelegen an einer einsamen Straßenbahnhaltestelle, die Fahrt lohnte sich für mich dennoch, weil ich mir keine Gedanken übers Abendessen zu machen brauchte, wenn ich für eine Mark einen Riesenteller Spirellis bekam. Im Übrigen war’s immer lecker, sodass man sich dort gern verabredete. Gedacht war das Ganze für Jugendliche, vor allem aber für Bedürftige, und dazu zählten in diesen Tagen viele Russen.
Eines Abends fuhr ich mit ein paar Kumpeln hin, stellte mich vor der Essensausgabe an, und als ich an die Reihe kam, sagt der Sozialarbeiter hinter der Theke: » Die letzte Portion.« Es gab Makkaroni mit Tomatensoße und einer Scheibe Jagdwurst, angekündigt als » Jägerschnitzel mit Makkaroni«, und der Teller, den er vor mich hinstellte, war also der letzte für heute. Da hörte ich jemanden hinter mir sagen:
» Meins. Mein Essen.«
Das war mit Bassstimme, schwerer Zunge und starkem russischem Akzent gesprochen. Ich drehe mich um.
Hinter mir steht ein Koloss, ein Riesenkerl mit mächtigem Schädel, ein Mongole oder Kirgise, den Augen nach zu urteilen, angetan mit einer schwarzen Fliegerjacke, den Fellkragen hochgeschlagen, denn es ist Winter und bitterkalt.
» Ey, is nich«, sage ich und wende mich wieder der Theke zu. » Red keinen Quatsch.«
Und kaum greife ich nach meinem Teller, meldet er sich wieder: » Ich habe gesagt: mein Essen.«
Er klingt unangenehm und bedrohlich, der russische Akzent, er reicht aus, alle Zweifel zu zerstreuen– der Kerl meint es ernst, und jetzt wird’s mir zu bunt.
» Dann lass uns rausgehen«, sage ich, immer noch nicht ganz auf der Höhe des Geschehens. » Fighten wir aus, wessen Essen das ist, wenn dir so verdammt viel daran liegt.«
» Gut«, sagt er mit dieser schleppenden, tiefen Stimme, » gehen wir raus.« Und folgt mir hinaus ins Freie.
Schnee. Schnee auf der Straße, Schnee auf den Äckern. Es wird dunkel, aber man sieht einander im Licht der Straßenlaternen. Meine Kumpel erscheinen in der Tür, und, siehe da, auch ein zweiter Russe taucht auf. Wir stehen uns gegenüber, ich will’s kurz machen, ich bin im Recht, es ist meine Portion, ich will mein Recht verteidigen und mich schon auf ihn stürzen, da packt er mich mit der Hand an der Kehle, nicht fest, aber sehr bestimmt, und sagt:
» Warte. Noch nicht.«
Ich: » Bist du bescheuert!? Was heißt hier: Warte?«
Und er: » Ich habe gesagt: Warte!«
Im nächsten Moment zieht er seine Lederjacke aus und reicht sie seinem Freund. Zieht seinen Pullover aus und reicht ihn seinem Freund. Zieht sein T-Shirt aus und reicht es seinem Freund. Und jetzt, wo er mit nacktem Oberkörper vor mir steht, sehe ich erst, was für ein Ochse das ist. In einer Fliegerjacke sieht jeder dick aus, aber der hier ist auch nackt ein Monster. Sieht schlecht für dich aus, denke ich, da zieht er sich noch den Gürtel aus der Hose und wickelt ihn sich um die Faust.
» So«, sagt er. » Jetzt können wir.«
Und sein warmer Oberkörper dampft in der eisigen Kälte.
Wenn ein halb nackter Mongole im gelblichen Licht einer Straßenlaterne vor dir steht, Muskeln, wohin du guckst, und eine Nackenpartie wie ein Panzer, eingehüllt in selbst produzierte Nebelschwaden, dann weißt du, was die Stunde geschlagen hat. Der kloppt sich
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