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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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nicht zum ersten Mal. Und jetzt noch mal schnell alles durchgegangen– wie hatte mein Vater gesagt? Wenn du dich unterlegen fühlst, denke logisch. Versuche, deinen Vorteil herauszufinden. Nutze das Überraschungsmoment. Wenn du einem Menschen zum Beispiel direkt in die Augen schaust und dabei die Fäuste ballst, rechnet er mit einem Angriff mit der Faust. Versetze ihm also einen Fußtritt. Wenn du ihn anguckst und gleichzeitig zutrittst, bemerkt er deine Absicht zu spät. Okay, denke ich. Gegen diesen Typen gibt es keine Rettung. Deine einzige Chance besteht darin, auf deinen Kuje zu hören.
    Ich nehme Boxhaltung ein, blicke ihm kerzengerade ins Gesicht, gehe im nächsten Augenblick vor und versetze ihm einen Tritt, um ihn wenigstens mal auf dem Boden zu haben. Er knickt zwar ein, aber er fällt nicht, deshalb kann ich ihm auch nicht im Fallen gegen das Kinn hämmern. Und jetzt macht er das Gleiche mit mir und knallt mir seinen Schuh gegen die Innenseite des Knies… und ich liege im Schnee, und er hockt auf mir drauf. Patsch, patsch, patsch, vier, fünf Schläge, das war’s, hättest du besser vorher genau hingeguckt, die Makkaroni sind flöten. Da richtet er sich auf, zieht mich hoch und sagt:
    » Wessen Essen?«
    » Deins«, sage ich zerknirscht.
    » Komm«, sagt er. » Wir teilen.«
    Das durfte nun wirklich nicht wahr sein, aber Tatsache ist: Wir gingen zusammen rein, setzten uns an einen Tisch, stellten den Teller in die Mitte, und weil es eine große Portion war, reichte sie für uns beide, und jeder ist satt geworden. Wir haben uns beim Essen sogar nett unterhalten.
    Der Russe hatte gar nicht daran gedacht, mich zu erniedrigen. Er hatte nur die Kräfteverhältnisse klarmachen wollen. Wie im Rudel: Dem Stärksten stehen die Makkaroni zu, aber als Stärkster kannst du dir leisten, großzügig zu sein. Ich kam mir nicht mal als Verlierer vor. Dabei hatte ich ihn auf die Idee mit dem Ausfechten gebracht, ich hatte ihn herausgefordert; jetzt hatten wir das geklärt, was für ihn völlig okay war, und damit gab’s keinen Grund für Nickeligkeiten mehr.
    Es hieß also, die Russen sind verrückt. Sie sind irre. Dass sie irre sein müssen, wusste ich spätestens, als dieser eine halb nackt und dampfend vor mir stand, den Gürtel um die Faust gewickelt. Von ihrer Menschlichkeit war nie die Rede. Später hörte man immer mehr Geschichten über sie, die ich überwiegend lustig fand, und zwar aus historischen Gründen. In Marzahn steht ja das erste befreite Haus Berlins, das erste, das die Rote Armee gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht hatte, und jetzt waren es wieder Russen, die uns von der Nazi-Brut befreiten.
    Dabei hatten sie gar nicht die Absicht, die Glatzen zu vertreiben. Sie haben nur aufgeräumt, um bei ihren Drogengeschäften ungestört zu sein– alles andere ist nachträglich reininterpretiert worden, von uns, von allen, die in Marzahn lebten. Die Russen haben sich wahrscheinlich überhaupt nichts dabei gedacht, die wussten nur: Die Nazis nehmen keine Drogen, die hauen jeden Dealer weg, also müssen wir den Weg für unsere Synthetikware erst mal frei räumen, und dann haben sie Marzahn und angrenzende Territorien übernommen. Irgendwann, Ende der Neunzigerjahre, hast du keine Nazis mehr auf der Straße gesehen, aber auch keine Russen. Vielleicht wurden die Differenzen des Nachts untereinander geklärt, keine Ahnung, aber es sprach sich rum, dass sie den Obernazi Andersen zu Hause besucht, ihm die Bude zerkloppt, ihn selbst kopfüber in den Müllschlucker gesteckt und ihm gedroht hatten: » Wenn du keine Ruhe gibst, schieben wir dich komplett durch, und du fällst vom elften Stock in den Keller.« Solcher Entschiedenheit hatten die Glatzen nichts entgegenzusetzen.
    Als ich später an der Tür vom Kalinka stand, habe ich selbst miterlebt, wie Russen kämpfen. Man kriegt sie nicht kaputt. Fünf Russen mischen locker dreißig Mann auf. Und wenn du denkst, sie können nicht mehr, entwickeln sie eine unglaubliche Energie und drehen die Kiste noch. Zum größten Teil waren es Weißrussen, die Familien irgendwann unter Stalin deportiert und irgendwo in der Sowjetunion angesiedelt, knochenharte Typen, habe nie was auf sie kommen lassen, in Erinnerung an den Mongolen von Hohenschönhausen.
    Eine Ironie der Geschichte– Berlin zum zweiten Mal von den Russen befreit. Womöglich hatte sich jemand was dabei gedacht, sie genau dort anzusiedeln, in Ahrensfelde, wo die Nazis Jagd auf Vietnamesen und Afrikaner zu

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