So gut wie tot
Telefonzentrale. »Sir, ich habe einen Beamten von Interpol am Apparat. Er ruft im Namen der Polizei im australischen Victoria an. Er möchte ausdrücklich mit jemandem sprechen, der für die ungelösten Fälle zuständig ist.«
»Gut, stellen Sie ihn durch.« Er setzte sich gemächlich und legte die Füße auf den Schreibtisch zwischen die Aktenstapel. Dann hielt er den Hörer ans Ohr. »Detective Superintendent Cassian Pewe.«
»Guten Morgen, ähm, Cashon, Detective Sergeant James Franks von Interpol in London.«
Franks sprach mit lässigem Public-School-Akzent. Pewe hielt gar nichts davon, wie sich die Sesselfurzer von Interpol aufspielten und den anderen Polizeibehörden überlegen fühlten.
»Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe zurück.«
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Sicherheitsgründe. Die übliche Verfahrensweise hier in Sussex«, erklärte Pewe wichtigtuerisch und genoss das bisschen Macht.
Franks revanchierte sich, indem er ihn vier Minuten lang in einer Endlosschleife von »Nessun dorma« hängen ließ, bevor er sich meldete. Es hätte ihn gewiss noch glücklicher gemacht, wenn er gewusst hätte, dass Pewe dieses Stück besonders verabscheute.
»Na schön, Cashon, die Polizei von Melbourne hat sich bei uns gemeldet. Man hat die Leiche einer nicht identifizierten schwangeren Frau im Kofferraum eines Wagens gefunden. Muss etwa zweieinhalb Jahre in einem Fluss gelegen haben. Sie haben DNA-Proben von ihr und dem Fötus genommen, fanden aber keine Übereinstimmung in den australischen Datenbanken. Jetzt kommt das Interessante …«
Pewe hörte ein Schlürfen, als hätte Franks Kaffee getrunken.
»Die Frau hatte Brustimplantate aus Silikon. Wie ich höre, werden diese mit der Seriennummer des Herstellers versehen und gemeinsam mit dem Namen der Empfängerin im Register des jeweiligen Krankenhauses eingetragen. Diese bestimmten Implantate wurden 1997 an das Nuffied Hospital in Woodingdean geliefert, das zu Brighton and Hove gehört.«
Pewe nahm die Füße vom Tisch und suchte vergeblich nach einem Notizbuch, bevor er sich schließlich mit einem Briefumschlag zufrieden gab. Er notierte die Fakten und bat Franks, ihm die Informationen zu den Implantaten und die Ergebnisse der DNA-Analyse von Mutter und Fötus per Fax zu schicken. Er versprach, sich umgehend darum zu kümmern. Dann wies er nachdrücklich darauf hin, dass sein Name Cassian und nicht Cashon sei, und hängte ein.
Er brauchte dringend einen Assistenten. Es gab weitaus Wichtigeres, als sich um eine alte Leiche aus einem australischen Fluss zu kümmern. Eine Sache war sogar sehr viel wichtiger.
63
OKTOBER 2007 Abby lachte. Ihr Vater auch.
»Du dummes Mädchen, das hast du absichtlich gemacht oder?« »Nein, hab ich nicht, Daddy!«
Beide traten zurück und betrachteten die zur Hälfte geflieste Badezimmerwand. Weiße Fliesen mit einer blauen Zierleiste, aufgelockert durch vereinzelte blaue Fliesen. Eine davon hatte sie falsch herum aufgeklebt, sodass man die graue Rückseite sah.
»Eigentlich solltest du mir helfen, junge Dame, statt mir noch mehr Arbeit zu machen!«, beschwerte sich ihr Vater.
Abby kicherte los. »Das war keine Absicht, Daddy, ehrlich nicht.«
Statt einer Antwort klatschte er ihr mit seinem Spachtel ein Stückchen Fugenmörtel auf die Stirn.
»Hey«, protestierte sie, »ich bin doch keine Badezimmerwand.«
»Und ob!«
Das Gesicht ihres Vaters wurde dunkel, das Lächeln verschwand. Er verwandelte sich in Ricky.
Ricky hielt einen Elektrobohrer in der Hand. Schaltete ihn lächelnd ein. Ein Heulen ertönte.
»Rechtes oder linkes Knie zuerst, Abby?«
Sie zitterte, während ihr Körper nur von den Fesseln gehalten wurde. Ihr Inneres bebte, als sie lautlose Schreie ausstieß.
Sie sah die rotierende Spitze. Sie näherte sich ihrer Kniescheibe. War nur noch wenige Zentimeter entfernt. Abby schrie. Ihre Wangen blähten sich auf. Kein Laut kam heraus. Nur ein endloses, gefangenes Stöhnen.
Es saß in Mund und Kehle fest.
Er schoss vor.
Dann änderte sich das Licht. Sie roch den scharfen, trockenen Geruch des frischen Fugenmörtels. Sah cremefarbene Fliesen. Sie hyperventilierte. Kein Ricky mehr da. Nur die Einkaufstüte lag noch da, wo er sie liegen gelassen hatte, gleich neben der Tür. Ihr ganzer Körper war schweißnass. Die Belüftung summte stetig, sie spürte den kalten Luftzug. Ihr Mund war völlig verklebt. Sie war ausgedörrt, unerträglich ausgedörrt. Nur einen Tropfen Wasser. Ein kleines Glas.
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