So habe ich es mir nicht vorgestellt
Wangen schienen eingefallen, und die Lippen, von denen sie immer behauptete, sie seien zu voll, waren trocken und farblos. Ein paar Strähnen ihrer hellbraunen Haare hatten sich aus dem Gummi gelöst, eine klebte an ihrem Ohr fest. Sie schniefte. Die geröteten Nasenflügel ließen ihre Nase gröber als sonst erscheinen. Der Spalt in ihrem Kinn war nicht zu sehen, als sie den Kopf auf die Brust sinken ließ.
Hila, die diesen tiefen Kummer nicht mehr schweigend ertragen konnte, beugte sich zu ihr, berührte ihren Arm und sagte: »Sprich mit mir, Jo’ela, bitte, sag mir, was mit dir ist.«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es selber nicht«, antwortete Jo’ela nach langer Zeit. Ihre Lippen zitterten. »Es ist besser, wir lassen das, es ist nichts passiert, ich … es ist nur … Im Bad gibt es Kompressen. Halte eine unter kaltes Wasser und leg sie dir aufs Knie.« Ihre Stimme klang heiser und erstickt, als unterdrücke sie ein Weinen.
Hila saß regungslos da, erschrocken und ratlos, aber nur für einen Augenblick, dann fühlte sie, wie ihre Entschlossenheit wuchs und sie sogar den Schmerz in ihrem Knie vergessen ließ. Wieder betrachtete sie das Gesicht, auf dem tiefe Hilflosigkeit zu lesen war, aber noch schlimmer war der in sich versunkene, verlorene Blick.
»Der Mensch wacht nicht einfach morgens auf, ohne daß etwas passiert ist, und fühlt sich … jedenfalls du nicht! Jo’ela, ich sehe doch, daß es sich nicht um eine einfache Grippe handelt.«
»Es ist aber eine Tatsache.«
»Was ist eine Tatsache?«
»Daß ein Mensch morgens aufwacht und … sogar wenn ich dieser Mensch bin.« Jo’elas Hände tasteten unter ihrer Decke, bis sie eine Rolle Klopapier gefunden hatten. Sie riß sich einen langen Streifen ab und wischte sich damit über das Gesicht. »Siehst du irgendwo meine Brille?« fragte sie und zog die Nase hoch.
Hila griff schweigend nach der Brille, die sie auf die kleine Kommode neben dem Doppelbett gelegt hatte, und hielt sie ihr hin.
Jo’ela nahm die Brille, setzte sie aber nicht auf. Sie betrachtete sie nur mit dem gleichen verschwommenen Blick und sagte: »Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich weiß es einfach nicht.«
Hilas Energie verflog, und wieder fühlte sie sich hilflos. Zögernd fragte sie: »Ist etwas passiert? Bei der Arbeit? Mit Arnon?«
»Nichts ist passiert. Was hat das eigentlich damit zu tun? Ich bin krank, einfach krank. Darf ich nicht auch mal krank sein?«
»Dann muß man einen Arzt rufen. Du zitterst ja … Soll ich vielleicht Nerja anrufen? Er kommt bestimmt sofort her und gibt dir was.«
»Auf gar keinen Fall!« rief Jo’ela mit heiserer Stimme.
Hila schwieg und betrachtete ihre Freundin, die immer noch den Kopf schüttelte. »Was habe ich denn getan? Ich habe doch nur gesagt, ich könnte Nerja anrufen«, sagte sie leise. »Seit wann bist du …« Und dann stellte sie fest: »Dir ist etwas bei der Arbeit passiert.«
Jo’ela schwieg, doch das Zittern ihrer Lippen nahm zu, und ihre Hände spielten unruhig mit der Brille, klappten die Metallbügel auf und zu, auf und zu.
Hila schob ein aufgeschlagenes Buch, das umgedreht unten auf dem Bett lag, zur Seite und hob einen roten Band hoch, der darunter zum Vorschein kam. »Was hast du da? Was ist das?« fragte sie erstaunt und schlug vorsichtig die erste Seite auf. Zwischen den gelben und braunen Flecken las sie die Worte: Bug-Jargal . »Wer liest das? Liest du es Ja’ir vor?« fragte sie ungläubig. »Von wo …«
»Laß das«, bat Jo’ela gereizt. »Ich habe einfach ein paar Sachen aus einem Karton geholt, der im Schrank stand.«
»Das ist ein Buch aus deiner Kindheit«, sagte Hila liebevoll. »Jo’ela, das Kind. Ich kann mir dich nicht als kleines Mädchen vorstellen, was für ein Kind warst du wirklich?«
»Ich erinnere mich nicht mehr, ein ganz normales kleines Mädchen«, murmelte Jo’ela nach einer Weile. Sie zitterte, sprach die Worte nicht deutlich aus, sondern zischte sie durch die Zähne und klappte die Brille zusammen.
Hila sagte nachdenklich: »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der niemals über seine Kindheit spricht. Wenn ich deine Mutter nicht kennen würde, könnte ich glauben, du wärst als erwachsener Mensch auf die Welt gekommen, so verantwortungsbewußt, wie du es heute bist.«
»Wie ich es heute bin«, wiederholte Jo’ela die letzten Worte mit zerbrochener Stimme und schnaufte laut. Sie zog mit beiden Händen an ihren Haaren, als wolle sie sie ausreißen, rieb sich heftig die
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