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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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gebeugtem Rücken erwartet hatte, eine Art Gott, der sie mit einem gütigen, allwissenden Blick betrachtete. Sie war jedenfalls nicht auf diesen eingeschrumpften, kleinen Körper gefaßt, nicht auf die braunen, ganz normalen Augen, die sie durch eine dünnrahmige Brille musterten, nicht auf die Sandalen mit den Plastikriemen, die er trug. Als er Hila ermutigend zulächelte und mit den Schultern zuckte, nachdem sie gefragt hatte, ob ihre Freundin dabeisein dürfe, bemerkte Jo’ela das große Muttermal, rund und dunkel, zwischen seinen Augenbrauen, von dem Hila unaufhörlich gesprochen hatte, sie hatte auf mystische Literatur hingewiesen und Formulierungen wie »das dritte Auge« erwähnt. Dieses Muttermal war nicht zu übersehen, es war da, zwischen den Augenbrauen, braun und rund, wie das Tikka-Zeichen, das sich Hindus auf die Stirn malen. Vor langer Zeit hatte Hila ihr von diesem Zeichen erzählt, als sie über die Entwicklung gewisser Eigenheiten des Hinduismus sprach. Was am Anfang das Zeichen eines besonderen Kultes war, an dem der Gläubige teilnahm – er bestrich die Stirn des Gottes mit roter Farbe und legte den Finger dann auch auf die eigene Stirn, weil er sich selbst ein bißchen als Gott sah oder es wenigstens anstrebte –, wurde, wie sie fand, verunreinigt, als es Teil eines anderen, koketten Kultes wurde: indische Frauen stimmen die Farbe des Tikka-Zeichens auf die Farbe ihres Sari ab.
    Der Heiler deutete auf einen Stuhl, der in der Ecke des kleinen Zimmers stand, neben der Tür. Jo’ela setzte sich gehorsam hin und beobachtete, wie er mit den Händen die Konturen von Hilas Körper nachzeichnete, in der Luft, ohne sie zu berühren. Hila hatte sich nicht ausgezogen, sie setzte sich nun, einer auffordernden Handbewegung des Heilers folgend, auf einen schwarzen Lederhocker, die Beine angezogen, die Arme eng am Körper, und schloß die Augen. Nachdem er sich leise erkundigt hatte, wie sie sich heute fühle – Jo’ela senkte die Augen, um Hilas schaukelnd vorgetragene, um Genauigkeit bemühte Antwort nicht durch einen tadelnden Blick zu stören, »nicht direkt Schrecken, eher Angst und vielleicht Sorge« –, bewegte der Mann mit weichen Bewegungen die Arme vor Hilas Brust, berührte sie aber nicht, breitete dann die Hände aus und zog sie dann wieder an sich, als wären sie mit einem weichen, unsichtbaren Gummi befestigt, wie Spielzeugvögel, oder als spiele er mit einem JoJo. Jo’ela sah, wie sich Hilas Arme entspannten und nun locker herunterhingen. Ihre Lippen öffneten sich, fast lächelte sie, doch ihre Augen blieben geschlossen. Der Mann stand jetzt hinter ihr und bewegte die Hände an ihrem Hals, wieder ohne sie zu berühren, er streckte nur die Finger aus und zog sie wieder zusammen. »Es tut weh«, murmelte Hila mit geschlossenen Augen und hob die Hand zur Schulter. »Ja, ja«, bestätigte der Heiler und hörte auf. Für einen Moment stellte Jo’ela sich vor, welches Vergnügen eine solche Berührung, die eigentlich keine war, bereiten konnte, solch ein wortloses Gespräch, und daß man es nur zulassen müsse.
    »Krebs ist keiner da«, verkündete er von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch aus und fuhr sich mit beiden Händen über den kahlen Kopf, bevor er in kyrillischer Schrift etwas auf einen Zettel schrieb, den er von einem Block abgerissen hatte. Hila, auf dem Korbsessel vor dem Tisch, atmete laut aus. Ihr Gesicht strahlte Gelassenheit aus, und ihr Lächeln wurde zu einem zufriedenen Glucksen. »Alles nur Erschöpfung«, verkündete sie triumphierend in den Raum hinein. »Aber es gibt Angst«, fuhr er langsam fort, »und diese Angst kann, wenn man sie nicht losläßt …« Seine Hände bewegten sich durch die Luft, während er noch einige Wörter auf Russisch und auf Jiddisch sagte. Hila warf Jo’ela einen fragenden Blick zu, doch diese hatte kein Wort verstanden und schüttelte den Kopf. Auch er blickte sie hoffnungsvoll an. »Krank machen?« schlug Hila vor. Er wiegte zweifelnd den Kopf. »Ja«, meinte er zögernd. Es war ihm anzusehen, daß diese Antwort ihm nicht paßte. »Etwas entwickeln, wachsen lassen«, bot ihm Hila an und drehte die Hände auf dem kleinen Tischläufer nach oben. Er schien diese Worte vorzuziehen, er murmelte: »… wie … wie die Welt.«
    »Wie die Welt?« fragte Hila erstaunt, bis sich ihr Gesicht erhellte. »Erschaffen«, rief sie erfreut.
    »Ja, ja.« Das Gesicht des Mannes strahlte. »Erschaffen. Wie von Nichts zu Etwas … Wie die Welt am Anfang

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