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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Wangen. Vielleicht ißt er nicht genug, aber Männer müssen das offenbar nicht. Er ißt nichts, sondern raucht eine Zigarette nach der anderen und erklärt ihnen ausführlich, warum es verboten ist, Sonnenblumenkerne zu essen, und wie sich die dünne, unsichtbare Haut unter der dicken Schale an den Stimmbändern festsetzt und man davon heiser wird. Ganze Trauben von solchen Häutchen setzen sich an den Stimmbändern fest, und nur durch eine gefährliche Operation, bei der noch nicht mal sicher ist, ob nicht auch die Stimmbänder verletzt werden, ist es möglich, die Häutchen von den zarten Stimmbändern wieder zu entfernen. Er hat einen Kern zwischen seinen gelben Zähnen aufgeknackt und allen das dünne Häutchen gezeigt, jedem einzelnen. Bei ihr hat er sich nicht lange aufgehalten, sie ist die kleinste von allen. Sie möchte fragen, traut sich aber nicht, warum man das Häutchen nicht einfach zerkauen kann, so wie den Kern auch. Er wiederholt vor Titania und Oberon und den anderen Edlen die Sache mit dem Sonnenblumenkern, und dabei hat er keine Ahnung, wieviel tausend Kerne sie in ihrem Leben schon geknackt und gegessen hat, es kann also leicht sein, daß jetzt schon Tausende von diesen Häutchen sich an ihren Stimmbändern festgesetzt haben und sie im nächsten Moment, vielleicht mitten in der Aufführung, ihre Stimme verlieren wird, so plötzlich, wie er es gesagt hat – und wenn man die Heiserkeit erst hört, ist es schon zu spät.
     
    Plötzlich, nach all den Tagen des Wartens, ausgerechnet an einem Tag, an dem sie vergessen hat zu kontrollieren, sich nicht angefaßt und nicht nachgeschaut hat, hat sie es. Wie alle anderen. Dieses »es haben« ist nicht so etwas wie ein Zaubertrank. Es wird real beim Anblick des Blutes. Ein rötlichbrauner Fleck, und in der Mitte ein kleiner Kreis von frischem Blut. Und auf einmal stimmt es, was ihre Mutter ihr gesagt hat, daß man nach langem Warten immer enttäuscht wird. Sie hat zwar das Warten auf Menschen gemeint, aber trotzdem ist jetzt klar, daß der Satz im Hinblick auf alles stimmt. Wenn man aufgehört hat zu warten, wenn man nicht mehr daran denkt – dann bekommt man es. Obwohl dann alles schon einen säuerlichen Beigeschmack von »zu spät« hat, nicht so, wie man es hätte haben wollen. Nie ist etwas, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie hat sich einen Blutstrom ausgemalt, obwohl sie einmal in einem der Mülleimer eine Binde gesehen hat, aber nicht wagte, näher hinzuschauen, aus Angst, ertappt zu werden. Sie hat sich jedenfalls keinen mittelmäßigen Fleck vorgestellt, weder groß noch klein, begleitet von lästigen Bauchschmerzen, die sie schon den ganzen Tag gespürt hat, ohne zu verstehen, woher sie gekommen sind, ein roter Fleck, der das seltsame Gefühl in den Beinen erklärt, schwer, als würden sie zur Erde gezogen, als wollten sie bedeckt sein, aber an einem Tag im Sommer, bei dieser Hitze, war es unmöglich, daß ihre Beine kalt waren, es sei denn, sie wäre krank, und krank wollte sie nicht sein.
    An diesem Tag geht sie zu ihrer Tante. Zu dieser Tante, die keine Schwester ihrer Mutter oder ihres Vaters ist, nicht einmal eine Verwandte, sondern nur eine gute Freundin der Mutter, und um die Fragen nach den wirklichen Onkeln und Tanten, die sie nicht hat, abzuwehren, sagt man einfach Tante Sarah. Aber ihr Vater hat einmal gesagt, sie sei wie eine Schwester, mehr als eine Schwester, wegen allem, was sie zusammen durchgemacht haben. Was das war, was sie zusammen durchgemacht haben, weiß das Mädchen nicht, aber sein Gesicht wurde bitter, als er das sagte, sein Blick dunkel und abwesend, als habe er vergessen, daß sie da war und auf eine Erklärung wartete, eine Geschichte.
    Einmal saßen Tante Sarah und die Mutter zusammen in der Küche, allein, das Mädchen lag im Bett, und draußen regnete es. Sie müßte aufstehen, um zu hören, über was sie dort sprachen. Wenn sie sich leise neben die Tür stellte, würde sie alles hören, was sie reden und was sie so komisch finden. Sie verließ die Wärme des Bettes und der Zudecke, eine Wärme, die sie erst nach langem Zittern und Zusammenrollen erreicht hatte, und stand dann barfuß an der Küchentür und lauschte. Aber sie konnte nichts verstehen. Tante Sarah, die flüsternd eine lange Geschichte erzählte, lachte immer wieder laut, und auch ihre Mutter lachte, ein wenig tadelnd zwar, aber sie lachte. Ein leises, weiches Lachen, ganz anders als das zügellose Gelächter Tante Sarahs, aber auch fröhlich. Scha,

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