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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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genug beobachtet hat, und schon ist alles anders, als es war. Der karierte Kittel ist verschwunden, die Haare sind nicht mehr zerzaust, sondern zurückgekämmt, und auf dem kleinen stoffbezogenen Hocker vor dem Spiegel sitzt eine andere Frau. Nicht dieselbe, die vorhin die Kacheln in der Küche geputzt hat. Wenn man Kinder will, muß man nackt sein. Warum schämt man sich nicht, wenn man nackt ist? Sie möchte nicht darüber nachdenken. Jetzt die Creme. Rosafarben. Die Mutter malt sich ein neues Gesicht. Erst schmiert sie sich Creme ins Gesicht und auf den Hals und tupft sie mit Wattebäuschen ab, die in der Ecke des Fachs liegen, unterhalb des Spiegels, dann kommt der schwarze Stift an die Reihe, der Striche um die Augen zieht. Das Mädchen beobachtet alles mit großer Aufmerksamkeit. Und schon weiß sie die Antwort auf eine Frage: Man malt einen schwarzen Strich um die Augen, um sie größer und auffallender zu machen. Unter ihrem Blick werden die Augen der Mutter größer und länger. Das Blau wird strahlender. Sie beißt sich auf die Lippe, als der schwarze Stift ins Auge gleitet und einen Strich auf dem Unterlid zieht. Sie beobachtet, wie sich die Farbe der Lippen von etwas Blassem, fast nicht Existierendem in einen roten Mund verwandelt, der später, wenn sie ins Bett gebracht wird, einen Fleck auf ihrer Wange hinterlassen wird. Sie sieht, wie die Hand der Mutter mit einem kleinen Kissen über die Wangen tupft. Auf die Stirnmitte. Auf die Nasenspitze. Der Pudergeruch erfüllt das Zimmer, aber es wird noch andere Düfte geben: den des Talks in den Strümpfen, die die Mutter über die nackten Beine zieht und am Strumpfbandgürtel befestigt, an den beiden Gummibändern. Sie steht da, hebt den Unterrock und prüft, ob die Naht gerade ist. Wozu ist das gut, die Creme, der schwarze Stift, der Puder, der Talk, hat sie schon öfter gefragt. Sie kann sich die Antwort vorsagen: Die Creme, um das Gesicht zu reinigen. (Seife trocknet die Haut aus. Bei ihr aber nicht, weil sie noch ein Kind ist.) Der schwarze Stift betont die Augen. (Sie darf das noch nicht, weil sie noch ein Kind ist.) Der rote Lippenstift betont die Lippen. (Warum muß das sein? Weil das schöner ist. Sie darf sich nur an Purim die Lippen anmalen.) Und der Puder dämpft die fettig glänzenden Stellen der Haut. (Ihre Mutter kennt das Wort »dämpfen« nicht, nur sie, ihre Mutter sagt »verstecken«.) Der Talk auf den Beinen ist dazu da, damit man die Strümpfe leichter hochziehen kann. (Sie selbst hat nur weiße Socken für Schabbat und wollene Kniestrümpfe für die Schule. Sie ist noch ein Kind. Wenn sie groß ist, wird sie auch solche Strümpfe haben. Aus Nylon. Und dann muß sie sehr aufpassen, damit sie nicht kaputtgehen. Und die Stelle, wo eine Laufmasche anfängt, mit Seife einschmieren.) Als sie einmal versucht hat, mit dem schwarzen Stift eine Linie auf das Unterlid zu malen, hat sie nur einen brennenden Schmerz am Auge gespürt, sonst ist nichts passiert, ihr Gesicht war wie immer. Im Zimmer riecht es nach Puder, Seife und Talk. Und jetzt kommt noch der süße Duft von Parfüm aus dem kleinen Fläschchen hinzu, mit dem sich die Mutter bespritzt. Trotzdem ist es unverständlich, einfach nicht zu begreifen, nämlich der Zusammenhang zwischen diesen Zubehörteilen und dieser geschmückten, herausgeputzten, strahlenden Frau, die nun vor dem Spiegel sitzt. Wenn jetzt alle Dinge wieder weg wären, wenn sie wieder nackt wäre, auch ohne Kittel, würde dann immer noch dieser Glanz von ihr ausgehen? Alles ist ja nur künstlich gemacht. Angemalt. Nicht wirklich. Ein hilfloser Zorn ergreift das Mädchen beim Anblick dieses zufriedenen Gesichts vor dem Spiegel. Ein Zorn, der sie unfähig macht zu sprechen.
    Die Lehrerin Siwa ist schön ohne all diese Sachen, hört sich das Mädchen sagen. Sie ist schön, ohne sich herauszuputzen.
    Ja? fragt die Mutter und dreht den Kopf zurück, betrachtet das Mädchen von oben bis unten. Wer hat das gesagt? fragt sie dann. Es wäre besser zu schweigen, trotzdem sagt das Mädchen: Sie malt sich nicht an, überhaupt gar nicht. Sie ist auch schön ohne das.
    Die Mutter verzieht ihren neuen Mund zu einem Lächeln und breitet das schwarze Kleid mit den lila Blumen auf dem Bett aus. Von den seitlichen Schlaufen fällt der glänzende Lackgürtel auf das weiße Laken.
    Deine Lehrerin, sagt die Mutter und beugt sich über den kleinen Pinsel, mit dem sie vorsichtig, mit zitternden Fingern über ihre Nägel streicht, ist wirklich

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