So muss die Welt enden
Wengernook. »Die Periskoptante.«
»Jemand so Frigides muß sich hier ja wie zu Hause fühlen«, spottete Henker.
»Warum halten Sie nicht den Mund?« fauchte George.
»Sind Sie Kriegsflüchtling?« fragte Bonenfant, nachdem man Morning vereidigt hatte.
»Ich habe in Chicago – als es noch existierte«, sagte Morning, indem sie die Lider schloß, mit einer Stimme, die George und seine Spermatiden als unwiderstehlich sinnlich empfanden, »Psychotherapie praktiziert.«
»Haben Sie die sechs Angeklagten an Bord des U-Boots Donald Duck, vormals New York City, wegen Überlebenstraumas behandelt?«
»Ja.«
»Weshalb wünschen Sie eine Aussage zu machen?«
»Ich weiß etwas, das bei Mister Paxtons Verteidigung helfen kann.«
»Etwas, das Sie während seiner Behandlung erfahren haben?«
Innerlich zappelte George. Nichts machte so verlegen, merkte er jetzt – kein Grad der Nacktheit oder öffentlicher Blamage –, wie das Erlebnis, sich anhören zu müssen, wie andere Leute die eigene Person diskutierten.
»Nein, meine Aussage betrifft etwas aus der Zeit davor«, sagte Morning. »Mister Bonenfant, ehrenwerte Mitglieder des Tribunals, ich möchte Sie gerne an den Tag der Rettung Mister Paxtons erinnern. Unser U-Boot lag im Bostoner Hafen und wartete auf die Rückkehr des Bergungsteams. Dort habe ich eines der Periskope auf den Heimatort des Angeklagten gerichtet.«
»Warum?«
»Um nach Möglichkeit einen ersten Blick auf meinen neuen Patienten zu werfen.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein. Aber die Ortschaft selbst hat mich fasziniert. Ich vergegenwärtigte mir, daß ihre Vernichtung bevorstand, und wollte wissen, wie die Einwohner ihre letzte Frist zubrachten. Die Menschen hatten harte, grimmige Gesichter. Sie befaßten sich mit ihren Samstagmorgenverrichtungen – holten die Post aus dem Briefkasten oder sich ihre Brötchen –, und nirgends sah ich eine Spur Freude. Es war sieben Tage vor Weihnachten. Aber dann kam ein kleines Mädchen mit seiner Mutter aus einem Supermarkt. Die Mutter trug eine Tüte mit Lebensmitteln. Das Kind hatte einen kleinen Plastikschneemann in der Hand, auf den es ständig einredete. ›Du darfst auf unserem Weihnachtsbaum sitzen‹, sagte es zu ihm, ich konnte es von den Lippen ablesen. Dabei wurde mir wohler… Und gleichzeitig fühlte ich mich elender. Der Sprengkopf schlug ein, und eine Ziegelmauer verschüttete die Mutter. Alles war verdüstert. Ich mußte das Infrarot benutzen. ›Ich habe Durst‹, sagte die Frau. Natürlich wirkten sich bald die Folgen der Strahlenverseuchung aus. Also lief das kleine Mädchen in den in Flammen aufgegangenen Supermarkt und kehrte mit einer Tüte Orangensaft zurück. Es hatte große Mühe, sie zu öffnen. ›Hier, Mami‹, sagte das Mädchen, ›ich hab sie aufgekriegt. Hilft dir das, Mami?‹ Kindern kann man leicht von den Lippen lesen, sie konzentrieren sich beim Sprechen sehr. Das Mädchen flößte seiner Mutter Orangensaft ein. ›Bestimmt wird wieder alles gut, Mami‹, sagte es. Der Mutter fielen die Augen zu, sie hörte auf zu atmen. Danach kam ein Mann vorbei, den das Kind kannte. Ich glaube, es war ein Bankangestellter. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler. ›Ist meine Mami tot?‹ fragte das Mädchen. ›Ist meine Mami jetzt im Himmel?‹ wollte es wissen. Der Mann brach zusammen. Der Mädchen fing zu weinen an. ›Ich will zu meinem Papi‹, sagte es. Einige Sekunden später schlug der nächste Sprengkopf ein…
Im Monat darauf hat mir der Angeklagte während der Therapie ein Foto seiner Tochter aus der Kindertagesstätte gezeigt, und da habe ich das Mädchen wiedererkannt, das der Sterbenden den Orangensaft eingeflößt hatte. Auf was ich hinweisen möchte, Hohes Gericht, ist die Tatsache, daß Mister Paxton weit mehr Opfer dieses Krieges ist, als ein Kriegstreiber. Seine Frau und sein Kind sind unschuldige zivile Opfer geworden, und ihm wäre das gleiche zugestoßen, hätte die Staatsanwaltschaft nicht seinen Namen aus dem Hut gezaubert, ihn über den Tisch gezogen und vor dies lachhafte Tribunal gezerrt. Wenn Ihnen an Rache liegt, verurteilen Sie ihn. Wenn Sie Gerechtigkeit anstreben, sprechen Sie ihn frei. Ich werde keine weiteren Fragen beantworten, und ich lehne es ab, mich dem Kreuzverhör zu stellen.«
Das Schluchzen brach sich langsam und gleichmäßig aus George Bahn, ähnlich wie Paukenschläge während eines Trauerzugs. Irgend jemand – Henker? Wengernook? – drückte ihm fest, voller Mitgefühl, das
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