Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
abspielte? Er verzehrte noch den kleinsten Rest, schabte mit dem Messer über den Teller und leckte die Klinge ab. Den Wein trank er in drei Zügen aus.
    »Anhand der Uhr können Sie ersehen, wann es hell wird«, erklärte Ramos. »›In der Antarktis ist es vor dem Hellwerden am dunkelsten‹, sagen wir hierzulande, ›und danach ist es auch am dunkelsten.‹« Er zeigte George, wie die Konstruktion funktionierte. Im Sockel brannte eine kleine Robbenöllampe. Im oberen Gehäuse steckte ein Eisblock. Durch das Aufsteigen der Hitze schmolz der Eisblock, das Wasser rann Tröpflein um Tröpflein ins untere Gehäuse, in dem George schon ein Pfützchen erblickte.
    »Das Prinzip stammt aus Leonardo da Vincis Skizzenbüchern«, sagte der Gefängniswärter. »Buenos noches«, fügte er leise hinzu. Er nahm Geschirr und Besteck und ging hinaus.
    Als das Untergehäuse der Uhr sich halb gefüllt hatte, so daß kaum noch zehntausend Tröpfchen George von der Hinrichtung trennten, suchte eine andere Person ihn auf, ein Mann, mit dem George, dessen war er sicher, nichts mehr zu besprechen hatte.
    Der Prozeß schien Bonenfant gealtert, ihm Falten eingefurcht zu haben. Man hätte meinen können, sein Gesicht wäre einem Luftballon aufgedruckt, dem jetzt die Füllung entwiche. »Die Justiz hat versagt«, meinte er zu George. Durch sein schwarzes Haar verlief ein weißes Zickzackmuster. »Nein, es ist noch ärger. Die Justiz ist gemeuchelt worden. Selbstverständlich haben wir sofort alle Rechtsmittel eingelegt.«
    »Aber es war aussichtslos, stimmt’s?«
    »Ich dachte, es wird ein gerechtes Verfahren. Das habe ich im Ernst geglaubt. Das Gericht ist schlichtweg zu begreifen unfähig gewesen, daß die wenigsten Nuklearkriege so enden. Soviel hochtrabendes Gewäsch über Unparteiigkeit, und dabei haben sie die ganze Zeit hindurch ausschließlich als Schwarzblütige gehandelt. Es tut mir leid, George. Meine besten Bemühungen haben nicht genügt.«
    »Sehen Sie das hier?« George holte die Glasmalerei vom Nachttisch und hielt sie Bonenfant vors Gesicht. »Ein Original-Leonardo.«
    »Hmm?« Der Rechtsanwalt besah sich das Bildchen aus unterschiedlichen Abständen. »Eindrucksvoll, so viel Details auf so kleiner Fläche.« Seine Stimme klang wie ein rostiges Scharnier. »Das Paar sieht Ihnen und Dr. Valcourt ein bißchen ähnlich, wie? Ein Leonardo, sagen Sie?«
    »Er hat das Bild nach Schilderungen des berüchtigten Lügners und Scharlatans Nostradamus gemalt.«
    Bonenfant latschte in der Zelle auf und ab; seine Gangart bezeugte eine gewisse Erschlaffung, seiner Haltung ließ sich leichte Gebeugtheit anmerken. »Das Gericht interessiert sich dafür«, sagte er, »ob Sie irgendeinen letzten Wunsch haben.«
    Müde schaute George hinüber zur Eisuhr. »Ich möchte, daß meine Familie wieder bei mir, daß der Planet wieder in Ordnung ist und meine Hinrichtung um fünfzig Jahre aufgeschoben wird.«
    Bonenfant rang sich ein Lachen ab. Wenn man an den Galgen kam, folgerte George daraus, erzielte man selbst mit den dümmsten Späßchen einen Lacher.
    »Tarmac hat um einen Soldatentod gebeten.« Der Anwalt mimte einen Schützen, der das Gewehr hebt. »Erschießungskommando.«
    »Ich habe gehört, man scheißt in die Hose, wenn man gehängt wird«, sagte George.
    »Ist aber abgelehnt worden.«
    »Armer Kerl.«
    »Aber einen Wunsch hat man ihm genehmigt, er wird mit dem tragbaren Raketengeschoß im Gürtelhalfter erhängt. Natürlich wird es vorher entschärft. Er hat Jefferson gesagt: ›Ich glaube noch immer, daß die Raketenwaffe dem Weltfrieden gedient hat, und es wäre Heuchelei, sich in meiner letzten Stunde davon zu distanzieren.‹« Aus der Hüfttasche seiner ARES-Montur brachte Bonenfant einen Umschlag zum Vorschein. »Für Sie.«
    George entledigte sich der Handschuhe, riß den Umschlag mit froststarren Fingernägeln auf. Heraus rutschte ein Blatt Papier.
     
Liebster Schatz,
    manche Dinge tun einfach zu weh.
    Die Ausrottung der Menschheit.
    Ein Wiedersehen mit dem Mann, den ich liebe, am Vorabend seiner Exekution.
    Verübelst Du es mir, wenn ich Dich nicht mehr besuche? Ich habe an das gedacht, was wir einander zu sagen hätten, und ich konnte es nicht ertragen. Aber ich lasse Dich nicht im Stich. Am Ende werde ich bei Dir sein. Es gibt keine Gerechtigkeit. Verzeih mir.
    In aller Liebe,
Morning
     
    Bonenfant hantierte an der Eisuhr, doch mißlang es ihm, ihr Abtauen zu unterbinden. »Sie sind eine wahre Berühmtheit geworden, George,

Weitere Kostenlose Bücher