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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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»Wenn du’s unbedingt willst, reden wir darüber.«
    »Ich muß immer an Blätter denken, an Herbstlaub, Blätter aller Art, rote und gelbe. Ich glaube, eine Zeitlang hätte ich in Vermont gelebt. Primitive Kunst hätte mir gefallen, soviel ist ziemlich klar, ich wäre in die Bibliotheken gegangen und hätte die Bücher reihenweise gelesen, in Mengen, berühmte und unbekannte Bücher, alles quer Beet. Und ich hätt’s mir nie abgewöhnt, Stofftiere zu sammeln.«
    Sachlich schilderte sie ihre während der ›Schlacht‹ um Corpus Christi im Vorschulalter vorzeitig ums Leben gekommenen Eltern. Helen wäre Angestellte einer Bowlinghalle geworden, eine gefühlskalte, unglückliche Frau, hätte in armutsähnlichen Verhältnissen und einer pathologisch mißratenen Ehe festgesessen. Hugh wäre Schlosser und ein von Selbstmitleid zerquälter Tölpel geworden, der lieber einen Sohn gehabt hätte, einen zweiten Flegel, mit dem er hätte Tiere schießen gehen können.
    Danach konnte Morning Erfreulicheres erzählen. Als nachdenkliches, schwärmerisches Schulmädchen hätte Morning tiefsinnige Gedichte über tote Vögel verfaßt und in Parson’s Creek Langustenzucht betrieben, Stipendien wären ihr gewährt, der Jacob-Bronowski-Preis für wissenschaftlichen Nachwuchs sowie andere Preise mit ähnlich merkwürdigen Bezeichnungen verliehen worden, und alles wäre ihres gewesen – ihres! –, Hugh hätte ihr nichts fortnehmen können. An der Universität wäre sie erst recht aufgeblüht, das Studium in der Abteilung für klinische Psychologie hätte sie im Blitztempo absolviert und anschließend ihren Doktor der Philosophie für die Gründung einer lukrativen Praxis genutzt. Sie hätte sich auf Schuldbewältigung spezialisiert.
    Sie beschrieb George ihre Fälle, alle verbunden mit Erfolgen, Besserung, Mißlingen. Phillip Cassady wäre bis ans Lebensende von sieben Persönlichkeiten besessen gewesen. Marcie Cremo hätte sich mit dem eigenen Revolver das Hirn aus dem Schädel geballert. (»Und deine Bestleistungen?« fragte George. »Da hätte ich eine ganze Reihe vorzuweisen gehabt«, antwortete Morning. »Weißt du, der wichtigste Kniff war, ihr Freund zu sein, auch wenn man uns das an der Uni nicht gelehrt hat.«) Janet Hodges wäre fett und voller Selbsthaß gewesen, aber nach der Therapie ein Rubens-Modell mit ihrer eigenen Art korpulent-opulenter Erotik und immerhin dazu fähig, unglückliche Liebesbeziehungen wie jeder andere auch einzugehen. Willie Howard wäre, weil er mit sechs Jahren noch kein Wort gesprochen hätte, als hirngeschädigt abgestempelt worden, aber Morning hätte ihm die Puppe mit den drei Augen vorgestellt, und die Puppe hätte ihm das Neptunische, Willie ihr englisch beigebracht.
    Danach plauderte Morning kaleidoskopische Erinnerungen aus, Erinnerungsfetzen ihrer Jugend, persönlich heilige Banalitäten: Einen Plüschkraken hätte sie gehabt, ein rotes Fahrrad, ein fleckiges Keramik-Teekännchen, eine Uhr in Form einer Katze. Geruch des Regens. Koffeinluft des Herbsts. »Meine beste Freundin hätte Sylvia geheißen, glaube ich. Ich hätte mich sehr für Oberliga-Baseball interessiert. Ja, ich wäre ein Baseball-Fan gewesen, kannst du dir so was vorstellen? Meine erste Menses hätte ich bei einem Spiel der Houstoner Astros gekriegt. Rotes Blut hätte ich für die Astros vergossen.«
    Sie gab George Beschreibungen von Astro-Spielern, die nie gelebt hatten. 2003 wäre ihr großes Jahr gewesen. Endspiel um die Weltspitze. Neunte Spielzeit. Einen Lauf Rückstand. Cristobal kommt… Robin Arcadia greift ein und… Paff!
    »Vielen Dank fürs Zuhören«, sagte Morning.
    »Du hattest ein echt bemerkenswertes Leben«, meinte George.
    »Das darfst du mir glauben.«
    *
    George legte sich an ihre Seite, die Eisigkeit, die von Mornings Körper ausging, und der Gedanke daran, was diese Kälte bedeutete, verursachten ihm ein Schaudern. Trotzdem schlief er sofort ein. Im Traum befand er sich in einem von Moosbewuchs gedämpften Wald, alle wichtigen Frauen seines Lebens waren ebenfalls dort, Justine, Morning, seine Mutter (SIE WAR BESSER, ALS SIE ES AHNTE), sie errichteten zu viert ein Haus (eigentlich nur eine Hütte, ein Holzhaus auf Pfählen an einem See), und danach kamen die Kinder, Holly, Aubrey und ein drittes Kind, mit dem Justine während des Kriegs schwanger gewesen und das sie später geboren hatte, ein Junge.
    Beim Erwachen gewahrte er, daß seine Lider zusammenklebten, und befürchtete, daß darunter, wenn

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