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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Tochter?«
    »Ja. Und den anderen.«
    »Sie fragen sich, wie ihnen wobei zumute ist…?«
    »Beim Totsein. Verrückt, nicht wahr?«
    »Halten Sie es für verrückt?«
    »Sie sind tot. Sie empfinden nichts mehr… Sverre hat erwähnt, es gäbe Zonen mit Überlebenden.«
    »Sicherlich.«
    »Sie glauben nicht, daß…?«
    »Nein, nicht.«
    »Ich dachte bloß…«
    »Sie sind in den Bombentrichter hinabgestiegen, stimmt’s? Und dann hat Ihr Nachbar auf Sie geschossen?«
    George kaute auf der Unterlippe. »Ich bin aus den Latschen gekippt. Als nächstes flog über mir ein Geier.«
    »Ein was?«
    »Ein Geier. Ein riesiger, schwarzer Geier. So groß wie einer von den Flugsauriern, Sie wissen schon, so ein Puterodingsda.«
    »Falls Sie den Pterodaktylus meinen, der war kein Dinosaurier.« Valcourt schnitt eine Miene intellektueller Süffisanz. »Aber immerhin eine Echse. Ihr Geier ist nicht der erste, der in die Annalen der Psychotherapie eingeht. So ein Tier hat früher den großen Leonardo heimgesucht.«
    »Leonardo da Vinci?« fragte George.
    »Ja.«
    »Ich habe von ihm ein Bild.«
    »Sie sind der Ansicht, Sie besitzen einen Original-Leonardo?«
    »Ich habe einen. Ich verwahre ihn in meiner Kabine.«
    Morning Valcourt warf einen flüchtigen Blick nach links, als wollte sie sagen: Tja, du armer Irrer, leider kann man sich nicht aussuchen, was der Beruf einem bringt. Danach stand sie auf. Ihr steifes, abweisend graues Kostüm hatte etwas von einem Ganzkörper-Keuschheitsgürtel.
    Sie trat an ein mit Literatur über Gehirnleiden vollgepacktes Bücherregal. Ihre Praxis versöhnte das Rationale mit dem Urtümlichen: George sah eine Anatomie-Wanddarstellung, ein Navahoindianer-Gehänge, ein Keramikgehirn, eine Hindu-Gottheit, ein Biofeedback-Gerät sowie ein Obsidian-Messer, dessen letzter Gebrauch wohl anläßlich eines Menschenopfers stattgefunden hatte. Sie zog ein dünnes Buch heraus, hielt George kurz den Umschlag mit dem Titel vors Gesicht – Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci – und schlug den Band auf. »Als Leonardo Säugling war«, sagte sie, »schwang sich ein Geier zu seiner Wiege herab und rieb den Schwanz an seinen Lippen. Oder wenigstens hat er das geglaubt. Hat Ihr Geier das gleiche getan?«
    »Mein Geier?«
    »Der Geier überm Zielgebiet.«
    »Wollen Sie sagen, ich hätte bloß ’ne Halluzination gehabt?«
    »Nehmen Sie an, es war eine Halluzination?«
    »Ich weiß nicht.« Georges erhielt keinen allzu vorteilhaften Ersteindruck von der Psychotherapie. »Mein Geier hat sich nicht an meinen Lippen gerieben«, sagte er wahrheitsgemäß.
    »Allem Anschein nach ist Leonardo ein uneheliches Kind gewesen. Er und seine Mutter hatten ein sehr inniges Verhältnis, viel Geknutsche und Gehätschel.« Morning tat, als drückte sie in den Armen einen Phantomsäugling. »Sie müssen berücksichtigen, daß sich zur Zeit des Altertums Mutterschaftskulte häufig um Geier bildeten. Die Ägypter glaubten, es gäbe keine Geiermännchen, sondern die Befruchtung geschähe durch die Winde. Anhand der Geierphantasie gestand Leonardo eine sexuell geprägte Beziehung zu seiner Mutter. So lautet jedenfalls Freuds Theorie. Der Schwanz öffnet die Lippen. Also Penetration.«
    »Ich dachte«, sagte George, »wir wollten über meine Probleme reden.«
    Morning stieß das Buch mit einer Plötzlichkeit zurück ins Regal, als ob eine Stahlfeder es hineinrammte. »Am Montag fangen wir an«, verhieß sie in gleichmäßigem Tonfall, »in die Gefilde des Todes hinabzusteigen.«
    George holte die Brieftasche hervor und zog ein rechteckiges Papier aus einer verschlissenen Plastikhülle. »Tun Sie mir ’n Gefallen? Verstecken Sie das, wo ich’s nicht finden kann.« Er legte das Viereck auf den Tisch. »Sonst schau ich’s mir immerzu an.«
    Die Therapeutin nahm Hollys Bild – ein offizielles Gruppenfoto der Kindertagesstätte Sonnenblume – und legte es in ihre oberste Schreibtischschublade.
    *
    Während Hollys Kindertagesstätten-Gruppenfoto für George stets ein Quell der Trauer geblieben war – ›unerträglich‹, wie die Therapeutin sich ausgedrückt hatte, war genau das zutreffende Wort für den Zustand, den es ihm wiederholte Male bereitet hatte –, verhielt es sich mit dem Bild, auf dem man ihn, Aubrey und Morning sehen konnte, gänzlich entgegengesetzt. Er betrachtete es, wann er konnte, besah es sich bei verschiedenerlei Licht, merkte sich jeden Pinselstrich. Am Samstagnachmittag schaute er es sich so

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