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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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kennt, überlegte George, ist Morning Valcourt wahrscheinlich auch ziemlich reiz- und temperamentvoll.
    *
    In der Sicht des Durchschnittskonsumenten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts galten Psychotherapeuten als überbezahlte Zeitgenossen. Für die Gunst, daß einem jemand zuhörte, erachtete man einhundert Dollar je Stunde als zu hohen Preis. Was den Menschen nicht klar ist, dachte Morning, ist meine Situation, die darin besteht, daß ich in Permanenz schufte, bei Tag und Nacht. Ich arbeite beim Essen. Ich träume von meinen Patienten.
    Sie hockte mitten im Periskopraum und legte sich ihr Mittagessen zurecht: Eine Thermoskanne mit Magermilch und eine Stulle mit Gurkenscheiben. Bis zum Ende der Reise beabsichtigte sie fünf Pfund abzunehmen. Ihr Patient vom Verteidigungsministerium fiel ihr ein, Wengernook. Ihn plagten so viele Gefühle – er malte sich sogar aus, wie seine Frau an Strahlenerkrankung dahinsiechte –, für die er keinen Wortschatz hatte. Er schwafelte über Abwehr gegen Interkontinentalraketen. Und um Randstable kreisten ihre Gedanken: Er faselte pausenlos über Kreiselsteuerung und seine einstige ›Denkfabrik‹. Er verwechselte Systemanalysen mit Denken. Und den Rüstungsbegrenzungsunterhändler: Der bedauernswerte Overwhite zermürbte sich mit nichtvorhandenen Tumoren. Nichts als Verdrängung…
    Und Paxton. Weshalb sieht er mich so an? Es geht nicht ums Sexuelle, zumindest nicht ausschließlich. Er will von mir noch etwas anderes.
    *
    Als Unitarier hatte George darüber Klarheit, daß es ihm an der Kompetenz fehlte, um sich mit metaphysischen Vorgängen abzugeben, und wenn bloß prophetischen Glasmalereien. Er hatte beschlossen, die Dinge auf der Grundlage der Theorie anzupacken, daß Leonardo keine unausbleibliche, sondern eine mögliche Zukunft vorausgesagt hatte, etwas Zukünftiges, das er, George Paxton, durch Beharrlichkeit und Findigkeit verwirklichen konnte. Ich lasse Leonardo und Hollys Halbschwester nicht im Stich, hatte er sich vorgenommen. Ich werde Morning Valcourt umwerben, alles unternehmen, um auf sie faszinierend zu wirken, mich in sie verlieben und sie davon überzeugen, daß sie mich heiraten muß.
    »Sie und ich haben viel gemeinsam«, sagte er, als er den Periskopraum betrat. »Wußten Sie, daß das Verkaufen von Grabsteinen ganz ähnlich wie Psychotherapie ist? Ich habe immer mit den Hinterbliebenen über ihren Kummer gesprochen.«
    »Wir sind Heiler, die durch Besprechen Erfolg haben«, antwortete Dr. Valcourt ausdruckslos.
    »Zum Beispiel hatten wir Gewissensberuhigungs-Grabsteine. Und Eigengroll-Grabsteine.«
    »Ach.«
    Wie er nun erkannte, hatte er ihre Miene falsch gedeutet. Der seltsame Zug um ihren Mund hatte nichts mit Zähnefletschen zu schaffen, sondern stammte vom Aussprechen so vieler Wahrheit, während das häufige, jähe Blähen ihrer Nasenflügel auf Einfühlsamkeit statt auf Versnobtheit beruhte. George drehte an seinem Ehering. Verzeih mir, Justine.
    »Ich möchte, daß Sie einen Blick auf einen Brand tun«, sagte Morning Valcourt.
    »Einen Brand? Ich habe im Umkreis von Wildgrove genug Brände erlebt.« Sie gab sich immer sachbetont, diese Frau.
    »Wildgrove war gar nichts.« Valcourt führte ihn zu Periskop Nummer I. »Odessa hatte die Ehre, als letzte Stadt Opfer eines Atomsprengkopfs zu werden. Vor fünf Tagen hat das Atomraketen-U-Boot Atlanta es beschossen. Es brennt noch.«
    »Odessa? Sie meinen… es sind doch russische Städte getroffen worden? Man hat nicht nur die Raketenstellungen angegriffen?«
    »Das hängt mit der grundsätzlichen Atomkriegsstrategie zusammen. Wir hatten ihre Raketenbunker aufs Korn genommen, aber sie dachten, wir hätten es auf ihre Städte abgesehen, also haben sie unsere Städte vernichtet, und… Quid pro quo.«
    George preßte die Augen an das weiche Gummi des Suchers. Unruhig waberte verwaschenes Orangerot im Sichtfeld. Er stellte die Schärfe ein. Odessa und das Umland erbebten unter dem Brausen der Feuersbrunst. Tintenschwarzer Rauch verfinsterte den Himmel. »Kunstfasern, Isolationsmaterial, Öltanks, Polymere – es ist reichlich von allem da, was die Flammen nährt«, sagte Morning. »Die Überlebenden müssen ein höllisches Gemisch von Dioxinen und Furanen einatmen.«
    »Sie wissen soviel, Dr. Valcourt«, antwortete George in einem Ton, von dem er hoffte, daß er einen verführerischen Klang hatte. Er befand, daß der Periskopraum miese Voraussetzungen bot, um das Zustandekommen einer Romanze zu

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