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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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je so tief gerührt wie dieser gewandt gepinselte Leonardo. Das Kind war Holly. Im Vergleich zu dieser Tatsache erachtete George den Umstand, daß es sich bei dem Mann um ihn und bei der Frau um Dr. Morning Valcourt handelte, als nahezu belanglos.
    »Den Mann kenne ich«, sagte Nadine. »Die Frau habe ich auch schon an Bord gesehen. Aber das Kind…«
    »Das ist Holly!« Die Zukunft! Es gab Leute, die behaupteten, daß diese Bilder die Zukunft zeigten.
    »Außer Ihnen ist aus Wildgrove niemand gerettet worden. Das wissen Sie doch von Dr. Valcourt.«
    »Aber sie sieht aus wie Holly.«
    »Genau wie sie?«
    »Ja, genau. Na ja, vielleicht nicht genau. Aber… wenn’s nicht Holly ist, dann…«
    Aubrey?
    »Die Schwester, die Holly haben sollte?« fragte er.
    »Niemand außer Ihnen ist aus…«
    Also gut. Dann nicht ihre Schwester. Wer dann? Er betrachtete Dr. Valcourts leicht flackrige Honigkuchenpferd-Visage. Obwohl sie mangelhafte Anlagen zum Lächeln hatte – George erinnerte sich an ihre schattige Persönlichkeit, ihr ätzendes Auftreten –, brachte sie eine filmreife Strahlemiene zustande.
    »Hollys Halbschwester? Werden Dr. Valcourt und ich heiraten und ein kleines Mädchen bekommen?«
    »Eine naheliegende Schlußfolgerung.«
    »Ich nenne sie Aubrey.«
    »Ein hübscher Name. Mögen Sie denn Dr. Valcourt?«
    »Überhaupt nicht.« Völlig falsche Antwort, erkannte George. »Ich werde halt lernen, sie zu mögen.« Vor Erregung spürte er ein Pochen in seiner Schußwunde. »Um Aubrey zu kriegen, tu ich alles. Dafür würd ich ’ne Klapperschlange heiraten.«
    Nadine holte per Schalter das Familienbild von der Wand. »Es hat den Anschein, als würden Sie noch einmal Vater.«
    George dachte an das elektromechanische Pferd für den extralangen Ritt vor der Baguetterie da Bruno, malte sich aus, wie Aubrey im Sattel säße, kicherte und kreischte. Pferd. Esel. Muli. Zeugungsunfähigkeit… »Nein, das kann auch nicht stimmen«, sagte er. »Ich bin zeugungsunfähig. Wie ein Muli. Das hat Dr. Brust mir gesagt. Wegen der Strahlung… Meine sekundären Spermatozyten…«
    Nadine projizierte noch ein Bild. Ein Mann näherte sich den Toren einer märchenhaft weißen Stadt. Ihre Marmorzinnen glänzten unter einem wie ein Schädel fahlen Mond.
    George sah, er selbst war der Pilger.
    »Sogar in diesem Zeitalter des Chaos«, sagte Nadine, »existieren Örtlichkeiten, an denen man die Zeugungsfähigkeit wiedererlangen kann. Die Erde hat ihre Marmorstädte.«
    Nachdem sie die Glasmalereien in ein Badetuch der Marine der Vereinigten Staaten gewickelt hatte, stopfte sie das Bündel in eine Tasche ihres Regenmantels. Sie klappte die Seite der Laterna Magica auf und pustete die Flamme aus, dann senkte sie die noch heiße Apparatur in einen Segeltuch-Kleidersack.
    »Lassen Sie mich beim Tragen helfen«, sagte George.
    Es schien, als ob Nadine ihn nicht hörte. Sie schlang sich den Sack über die Schulter und humpelte in den Korridor. George folgte ihr eine lange Wendeltreppe hinauf. So groß war seine Verranntheit in den Gedanken einer Reinkarnation Hollys – Aubrey Paxton, prophezeit von Nostradamus, gemalt von Leonardo da Vinci, gezeugt durch George Paxton, geboren durch Morning Valcourt – schon jetzt, daß er völlig baff war, als er merkte, Nadine hatte ihn aufs Deck des aufgetauchten U-Boots geführt. Schwaden trüben Dunsts machten die Luft stickig. Brecher donnerten gegen den Bug, mit dem das U-Boot die Wogen teilte. Der Wind brannte auf Georges Wangen; er zerrte an seinen Haaren wie der Kamm einer ungeduldigen Mutter. Herrgott! Wie kalt es war!
    Neben dem Rumpf des U-Boots schaukelte ein offenes Segelboot, an dessen Steuerruder inzwischen Nadine Platz genommen hatte. Nachdem sie das Segel gesetzt hatte, griff sie in ihren Regenmantel und holte eine der Glasmalereien ihrer Laterna Magica heraus, breitete die mit einem Handschuh bekleidete Rechte über die bemalte Seite, um sie vor Gischt zu schützen. George nahm das Bild entgegen wie ein Verhungernder Brot.
    »Wie kann ich die Stadt finden?« fragte er.
    »Keine Ahnung«, rief Nadine, legte ab.
    »Hat dieser Nostradamus was getaugt?«
    »Er hat so einiges drauf gehabt.«
    Ein großer, sich stets verbreiternder Keil aus Meer und Himmel zwängte sich zwischen George und die Frau. George betrachtete seinen Leonardo: Die Details waren erstaunlich, nämlich so deutlich unterscheidbar wie Schaltkreise auf einem Computerchip, und besonders beeindruckte ihn Aubreys reizendes Gesicht

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